Nomadin
Vielleicht ist diese Wurzellosigkeit keine Flucht, sondern die Suche nach der Fremdheit, die irgendwo zwischen all dem Vertrauten ist, in meinem Selbst. Vielleicht ist dieses keine Wanderung um des Wandern willens, sondern um zu finden. Die Fremdheit in der eigenen Reaktion, im eigenen Wunsch, im eigenen Denken und Gedanken.
Haruki Murakami: Naokos Lächeln
"Du bist doch so ein großer Fan von Scott Fitzgerald. Hat der nicht geschrieben, man solle nie einem Menschen trauen, der von sich behauptet, er sei durchschnittlich? Du hast mir das Buch selbst geliehen", sagte Naoko mit einem verschmitzten Lächeln.
"Stimmt, aber ich habe mich ja nicht bewusst dafür entschieden, durchschnittlich zu sein. Ich bin wirklich zutiefst davon überzeugt, ein Durchschnittsmensch zu sein. Oder kannst du an mir etwas entdecken, das nicht durchschnittlich ist?"
(aus Haruki Murakami: Naokos Lächeln)
Tōru Watanabe ist scheinbar tatsächlich ein Durchschnittsmensch. Er ist sogar scheinbar so durchschnittlich, dass er die Aufstände seiner Mitstudenten der Sechziger in Tōkyō nur aus der Ferne beobachtet und sich in das zurückgelassene Mädchen seines Freundes Kizuki verliebt, welcher nach einem gewöhnlichen Durchschnittsabend seinem Leben plötzlich ein Ende setzte. Während er stundenlang schweigend mit Naoko durch die Straßen Tōkyōs wandert, ihren ziellosen Schritten einfach folgend, und selbst nicht sagen kann, warum er das tut und wohin diese Wanderungen führen sollen, vögelt er am Wochenende jedes Mädchen, das besoffen genug ist, sich in ein Hotelzimmer locken zu lassen. Und zwischen den alkoholisierten Wochenendnächten und den mit Naoko verwanderten Sonntagen widmet er sich seinem Studium, jobbt für seinen Unterhalt und zerliest immer wieder dieselben Exemplare seiner Lieblingsbücher, denn was sonst sollte er auch tun, außer diesem.
Nach ihrem 20. Geburtstag, den sie gemeinsam verbracht und an dem sie zum ersten Mal miteinander geschlafen hatten, verschwindet Naoko plötzlich spurlos. Erst Monate später erhält Tōru Antwort auf seine Briefe. Naoko hat sich in ein weit weg gelegenes Sanatorium begeben und sucht in der Abgeschiedenheit nach Erholung.
Ich las den Brief immer wieder, hundertmal, und bei jedem Mal überkam mich unsägliche Traurigkeit. Es war genau die Traurigkeit, die ich empfunden hatte, wenn Naoko mir in die Augen sah.
(aus Haruki Murakami: Naokos Lächeln)
Während Tōru darum bemüht ist, zu begreifen, was Naoko bewogen hat, ein Sanatorium aufzusuchen, lernt er die lebhafte Midori kennen, und noch bevor er selbst es begreift, weiß es der Leser schon längst: er verliebt sich in Midori. Doch da ist immer noch Naoko, die er nach langem Warten endlich besuchen darf, die ihn jetzt braucht und die so lange Teil seines Lebens war, erst als Freundin des freiwillig aus dem Leben geschiedenen Freundes, und nun an seiner Seite.
Ein Wollen und Nichtkönnen beginnt. Ein Wanken und Schwanken zwischen der traurigen und labilen Naoko und der fröhlichen, lebendigen Midori, die klammheimlich eine schwere Bürde meistert.
***
Haruki Murakami ist es gelungen, bauchkribbelnde, frische, junge Leidenschaft mit Unglück und tragischen, jungen Freitoden zu verknüpfen. Dass die Waagschale nicht kippt, dafür sorgt seine Figur Tōru Watanabe, der in seiner scheinbaren Durchschnittlichkeit das Geschehen ringsherum ohne große Gegenwehr annimmt, wie es kommt und es so gut er kann, bewältigt.
Viele kleine Nebenschauplätze, wie der Zimmergenosse im Studentenwohnheim, der seltsame, wahllos frauenbesteigende Mitstudent und dessen herzzerreissend duldsame Freundin, die liebevolle, dem Außenleben entfremdete Mitpatientin Naokos, vermögen es, die Schwere, die sich immer mal wieder einzustellen droht, aufzulockern und die Seiten mit freundlicher Farbe zu bestreichen.
Naokos Lächeln ist viel mehr als nur eine Liebesgeschichte. Es ist die Suche eines jungen Menschen nach seinem Weg inmitten von tragischen Wegen. Die Suche nach ein bisschen Glück inmitten von Tumult und Unglück. Und, so habe ich es empfunden, die Frage danach, ob es ihm überhaupt erlaubt ist, das Glück, oder ob er sich nicht neben jene zu stellen hat, denen es versagt geblieben ist.
Ein kühnes Buch, das der Tragödie nicht die Tragik nimmt, aber dem Glück auch nicht den Glanz.
05. August 09
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António Lobo Antunes: Was werd ich tun, wenn alles brennt?
... der Schlauch, der die Bürgersteige wäscht, eine gewisse Veränderung im Rauschen der Bäume, die Blätter, die der Teich aufmerksam wie eine Stirn in Falten legt, die auf der Suche nach Erinnerungen ist, von denen sie weiß, dass es sie gibt, die ihr aber entwischen, es reicht, dass dein Arm meinen in der Strömung des Schlafes streift, wo in den Gesten die Algentiefe ertrunkener Frauen enthalten ist, die am Ufer liegen und fragen
- Bist du es?
(aus António Lobo Antunes: Was werd ich tun, wenn alles brennt?)
Eine Familie ohne Vater. Ohne Mutter. Ja, sogar ohne Kind. Eine Familie, die niemals eine sein konnte und niemals eine sein wird, außer in der Sehnsucht, in den Träumen, den Wünschen, den vielen heimlichen Wenn und Aber. Und überall Geheimnisse. Lügen. So tun als ob. Vor allem So tun als ob.
Es schmerzt, dieses Buch, Seite für Seite, Absatz für Absatz. Das Rudern mit den Armen im luftleeren, einsamen Raum des Erzählers, welcher der Sohn ist desjenigen, der als einziger das lebt, was er leben möchte, der als einziger das ist, was er sein möchte, ungeachtet dessen, wie schwer der Weg dorthin auch war, ist und bleibt.
Es schmerzt und es lockt, dieses Buch. Mit seinen wunderbaren, magischen Worten und Windungen, die manchmal als gequälte Litanei daherkommen und manchmal verkleidet als kuriose Umschreibungen, als lebendige Wortzeichnungen, die Dinge erzählen, welche man selbst doch irgendwie kennt, die einem aber so, auf diese Weise, fremd und neu und bisher unbeschrieben daherkommen.
Mein erster Antunes, aber nicht mein letzter.
05. August 09
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Peter Nádas: Ohne Pause. Drei Stücke
(Pause, er ringt nach Worten)
Ich habe es mir vorgestellt. Eher vorgestellt. So heißt es doch, vorgestellt. Daß man sich etwas vorstellt, was sein könnte. Man sieht es, doch der andere kann es nicht sehen. Man fühlt es auch, aber es geschieht nichts, so daß der andere nichts sehen kann.
(aus: Peter Nádas: Ohne Pause. Drei Stücke)
***
Was ist Theater? Ist es das Auf der Bühne stehen und Aufsagen der auswendig gelernten Texte, an den richtigen Stellen richtig betont und genau in der richtigen Lautstärke, vor einem Publikum, dass interessiert hinschaut und zuhört? Ist es das Hinausschleudern von Worten, das Hinwerfen von Sätzen, auch solchen, oder vor allem solchen, welche schockieren, sich wie Stöße oder Schläge anfühlen? Ist es wie Fernseher, nur ohne Fernsehgerät? Wie Radio, nur ohne Radiogerät? Wie Ballett, nur ohne Tanz? Wie ein Roman, nur ohne Buch?
Theater ist nichts davon. Und alles zusammen. Theater spricht in der Stille und schweigt in vielen Silben. Es werden Worte gemacht, und, ja, auch Texte auswendig gelernt, aber es ist mehr als Reden und Schweigen. Es ist Atmen. Es ist Spiel und doch mehr als das. Es ist Leben und doch anders. Weniger. Mehr.
In Peter Nádas
Ohne Pause. Drei Stücke erliest sich der Leser drei Theaterstücke gänzlich ohne Bühne, ohne Schauspieler, ohne gesprochene Worte. Er kennt nicht die Kulissen, kennt nicht die Personen auf der Bühne, nicht die Musik, nicht die Kostüme, nicht die Stimmung. Und doch erliest er sich die Stücke, nimmt sie in sich auf und baut sich seine eigene Bühne, seine eigenen Personen und spricht jedes Wort auf seine Weise.
Anstrengend ist es zuerst, die Anmerkungen zum gewünschten Spiel der Schauspieler nicht als Unterbrechung der Dialoge zu empfinden, sondern viel mehr als deren Unterstreichung. Anstrengend ist es auch, nicht beim Lesen das Gesicht zu verziehen, im Zorn oder in Ergriffenheit, in Spott oder vor Liebe - und plötzlich und selbstverständlich lesen sich Emotionen in die Worte hinein, scheint Lesen eine wechselnde Lautstärke zu haben, scheinen sich Buchstaben hastig oder langsam zu Worten zusammenzufügen.
ZSUZSA
Mein Sohn ist bei mir.
KLÁRA
Den du dir vorstellst.
ZSUZSA
Was ich mir vorstelle, gehört mir.
(aus: Peter Nádas, Ohne Pause. Drei Stücke)
Der Leser weiß nicht, ob seine Kulissen, seine Personen, seine Dialoge Beifall des Autors finden würden. Während er liest, malt er sich Bilder, hört er Sätze fallen, sieht er Personen vor sich und wenn er das tut, wenn er liest, malt, hört und sieht, dann ist er bereits hingefallen, eingetaucht in das Gelesene. Und das, genau das ist Theater. Hineinfallen. Eintauchen. Hören und das Gehörte sehen, in der Körperhaltung, in den Gesten und Bewegungen der Schauspieler wiederfinden. Hören und Sehen sich gegenseitig unterstreichend, vertiefend.
Wie einfach es klingt, als Schauspieler einen Text zu lernen und mit entsprechenden Gesten wiederzugeben. Und doch ist es Mühsal, Plage und sogar Elend, sich einzulassen, auf diese Person, die man selbst nicht ist, die man vielleicht sogar überhaupt nicht leiden kann und mit ihren Gesten und Bewegungen und mit ihrer Stimme zu überzeugen. Sich selbst und das Publikum. Wieviel Mühsal und Plage das sein kann und zumeist ist, erfährt der Leser am Ende des Buches.
***
Am Anfang ist es sehr schwer, sich hineinzulesen. Nach durchschnittlich jedem zweiten Satz, gefühlt sogar jedem Satz, zerreißt eine Regieanweisung die Dialoge. Wenn man sich jedoch mit den Personen und deren Situation vertraut gemacht hat, möchte man auch wissen, worum es überhaupt geht und, vor allem, wohin es führen wird.
Ich gebe zu, ich weiß nicht, worum es ging. Wohin es geführt hat, dementsprechend auch nicht. Ich habe aber die Ideen, die ich beim Lesen hatte, die Bilder von den spielenden Personen und die Vorstellung, wie
ich diese Szene spielen würde, sehr genossen.
Es war ein Experiment, mich auf dieses Buch einzulassen und ich habe es nicht bereut. Ein Experiment dieser Art jedoch reicht mir, denke ich.
05. August 09
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Fjodor Michailowitsch Dostojewskij
Wenn man mich hin und wieder auffordert, doch über dieses oder jenes zu schreiben, mir eine Geschichte, eine Erzählung auszudenken, dann antworte ich meistens, sofern ich überhaupt darauf antworte, dass man über vieles schreiben kann, wenn man es denn mag, aber nur jenes, das man auch fühlt, beim Schreiben, nur jenes, das aus dem eigenen Inneren kommt, es wert ist, erstens geschrieben und zweitens gelesen zu werden. Ich finde, ob es nun stimmt oder nicht, weiß ich nicht, ich finde es aber dennoch, dass man einem Text, egal welchem, anmerkt, ob er aus dem Inneren kommt, aus der Tiefe, von ganz unten, oder ob er den Schreiber nur gestreift hat, im Flug aufgefangen und dann niedergeschrieben wurde.
Einer, der fühlte, was er schrieb, der wusste, wovon er schrieb, der aus der Tiefe hervorholte, was er zu Papier brachte, war Fjodor Michailowitsch Dostojewksij.
***
Doch je näher der Abend heranrückte und je dichter die Dämmerung wurde, desto schneller und verwirrender wechselten meine Empfindungen und auch meine Gedanken. Irgend etwas in mir, in der Tiefe des Herzens, wollte nicht sterben, es wollte nicht sterben und blieb als brennende Sehnsucht.
aus: F. M. Dostojewski, Aufzeichnungen aus einem Kellerloch, erschienen 1864: Vereinsamt und in sich selbst ausweglos gefangen, zerpflückt der Ich-Erzähler das menschliche Miteinander, die menschlichen Werte und das Menschsein an sich auf bittere, giftige, absichtlich vergnügt-boshafte Art. Und unter all den Verunglimpfungen scheint immer wieder die Einsamkeit durch und der heimliche Gedanke, wie es wäre, sich einzulassen, auf die Menschen, ihr Ideen, ihr Miteinander.
***
Ich muss zugeben, dass es mir anfangs schwer fiel, mich in Werke und Stil des F. M. Dostojewskij (1821 - 1881) hineinzufinden. Vielleicht lag es aber nicht nur an Dostojewskij allein, sondern daran, dass ich zu jener Zeit, als ich vollkommen ahnungslos mit
Schuld und Sühne (auch bekannt als "Verbrechen und Strafe, erschienen 1866") begann, den Kopf voller widerstreitender Gedanken hatte und meine Konzentration gerade ausreichte, mir die Schuhe vernünftig zuzubinden und die Jacke gerade zu knöpfen. Dennoch, obwohl ich mich beinahe abwesend durch das erste Drittel des Buches kämpfte, wirkte es auf mich. Es wirkte in einer Art und Weise, die dafür sorgte, auch die fehlenden beiden Drittel zu lesen.
Vielleicht hätte ich nach diesem ersten Buch nie wieder einen Dostojewskij in die Hände genommen, wäre nicht eines Tages ein wunderbares Päckchen, Weihnachtspost von weit her gekommen, randvoll gefüllt mit dieser Art Bücher, die auch ohne buntes Cover auskommen und die nach langen Jahren im Bücherschrank diesen speziellen leicht muffigen Geruch alten Lesewerks angenommen haben. Dass zwischen den Büchern auch die meinerseits geschickte Tütensuppe "Tomate in Reis" im Paket war, verzieh ich großherzig angesichts der drei Bände
"Die Brüder Karamasow" und der zwei Bände
"Der Idiot".
Die Brüder Karamasow, erschienen 1878, mochte ich von der ersten Seite an. Bereits die ausschweifende Einleitung des Autors, die Versuche, die Länge des Romans zu erklären und dessen Rahmen grob darzustellen, malten mir ein Lächeln ins Gesicht. Und nach der langen Einleitung, sprang er voll hinein, der Herr Dostojewskij, und man fand sich in einem angespannten Umeinander zwischen einem Vater, der diesen Namen nicht verdient hat und seinen drei Söhnen, Iwan, Dimitrij (Mitja) und Alexej (Aljoscha - der Vorname Dostojewskijs 1875 geborenem Sohn), die weder untereinander, noch mit dem Vater bekannt waren, wieder.
Wie schon in
"Schuld und Sühne" ist auch hier der menschliche Abgrund Hauptthema, geht es um die Zerrissenheit zwischen Wollen und Sollen, zwischen Wunsch und Gewissen. Und auch hier gibt es einen Mord, einen Mörder und verzweifelte Liebe. Ermordet wird der Vater, der ein großes Ekel, ein
"Hanswurst", ein haltloser und lasterhafter Widerling ist und der Mörder, so will man es wissen, ist der eigene Sohn, den der Vater abgefunden und dabei betrogen hat. Erst viel später, als es zu spät ist und niemand mehr es glauben will, stellt sich heraus, dass es nicht der Sohn war, der erschlagen hat, sondern der aus Mitleid (oder schlechtem Gewissen) vom Vater beschäftigte, fallsüchtige Diener.
"Die Brüder Karamasow" sind voller Gewissenskonflikte. Muss ein Sohn seinen Vater lieben, nur weil er der Vater ist, der Erzeuger? Oder darf ein Sohn seinen Vater auch hassen, weil dieser eben nichts weiter als ein hassenswerter, widerlicher Dreckslumpenhund ist, der sich nie um seine Söhne geschert hat und es auch jetzt nicht vor hat? Oh, und wie gemein, hundsgemein ist es vom Vater, ausgerechnet jener Frau den Hof zu machen, mit Geldscheinen wedelnd und günstige Heirat versprechend, in die sich der Sohn verliebt hat! Zwischen allen den hass- und schulderfüllten Familienkonstellationen ist es für den Diener eine Leichtigkeit, sich insgeheim einzumischen, zu morden, und die Schuld dem Sohn in die Schuhe zu schieben. Diesem Sohn oder einem andern, es sind ja mehr als einer vorhanden. Am Ende, als die Weichen gestellt sind, tröstet der Selbstmord des Dieners auch nicht darüber hinweg, dass der Falsche vor Gericht gezerrt wird, und auch die nun endlich gegenseitig erblühte Liebe, um die er so lange gekämpft hat, kommt einem wie ein Hohn vor. Liebe, jetzt, wo Sibirien droht, jahrelange bis lebenslange Zwangsarbeit, das muss doch nur eine weitere Strafe sein, für etwas, das er nicht getan hat, für das er jedoch büssen muss, alleine deshalb, weil er der Sohn eines Vaters ist, den man niemanden wünscht.
Mit den Namen "
Gruschenka" und
"Mitja" in Herzen und Kopf, wandte ich mich dem
"Idioten", erschienen 1868, zu. Sehr schnell erfahre ich, dass die Hauptfigur, der Fürst, an Epilepsie leidet und zur Heilung dieser schrecklichen Krankheit jahrelang in der Schweiz verweilt hatte. Epilepsie, Fallsucht, daran war auch der Diener im vorherigen Buch erkrankt. Hier jedoch geht Dostojewskij noch einen Schritt weiter und bezeichnet den Epileptiker als Idioten. Aber nicht alleine wegen der fluchgleichen Krankheit alleine nennt er ihn einen Idioten, sondern wegen seiner Ehrlichkeit, Güte und Gerechtigkeit. Jemand, der nicht zu seinem Vorteile handelt, auch nicht zu seinem Vorteile von sich spricht, alleine der Ehrlich- und Gerechtigkeit wegen, der muss ein Idiot sein. Und wenn er sich dann noch schamlos ausnutzen lässt, verzeiht, was unverzeihlich ist, der kann nichts anderes als ein Idiot sein, ganz gleich, ob das menschenfreundlich ist oder nicht. Menschen sind nicht menschenfreundlich, ausser sie sind Idioten.
Natürlich hat es ein Idiot auch in der Liebe nicht einfach und entscheidet sich am Ende nicht für die, die er liebt, sondern für die, die ihn braucht. Und ein Idiot ist eben ein Idiot, bleibt ein Idiot und wird nie etwas anderes ein, weshalb er auch kein glückliches Ende verdient hat, sondern ein idiotisches, wie es einem Idioten angemessen ist.
Ich erwähnte anfangs das Fühlen beim Schreiben, das Schreiben aus der Tiefe, aus dem eigenen Sein. Dostojewski hat sein Leben, sein eigenes Ich, seine Erlebnisse und Erfahrungen in seine Werke eingesponnen. Die Ermordung des eigenen Vaters im Jahre 1839 durch leibeigene Bauern fließt in "Die Brüder Karamasow" ein. Ebenso die Epilepsie Dostojewskijs, die nach anfänglicher Milde ständig schwerere Anfälle hervorruft und ihn immer wieder ins Ausland reisen und nach Linderung oder gar Heilung suchen lässt. Auch in "Der Idiot" ist Epilepsie ein tragendes Thema. Niemals sicher sein können, wann es passiert, immer auf der Hut sein, ob sich erste Anzeichen einstellen. Und dann doch, trotz aller Vorsicht und Selbstbeobachtung überrollt werden und sich nicht dagegen wehren können. Alles das beschreibt er an dem Fürsten, der Hauptfigur im "Idioten" und darüber hinaus macht er aus dem Kranken noch einen Deppen, einen nicht ernstzunehmenden Narren, über den alle nur den Kopf schütteln.
Dostojewskij beschreibt sowohl in "Schuld und Sühne", als auch in "Die Brüder Karamasow" die Verfolgung durch die Justiz, die Ermittlung, das Gericht und das zu erwartende Sibirien. 1849 wird er nach dem Vorlesen eines staatsfeindlichen Textes des Bekannten Belinski vor Gericht gestellt und zum Tode verurteilt. Unmittelbar vor Vollzug des Urteils wurde er begnadigt und stattdessen zu vierjähriger Zwangsarbeit und anschließendem niederen Militärdienst verurteilt. Nachdem 1850 erstmalig Epilepsie diagnostiziert wurde, begnadigt man ihn 1857 aufgrund seiner nunmehr schweren Anfälle endgültig und entlässt ihn 1859 aus dem Militärdienst.
Fast 150 Jahre sind sie alt, die Werke Dostojewskijs, der selbst nur 59 wurde, und doch beschreiben sie dieselben menschlichen Zweifel, Abgründe und Konflikte, wie sie wohl ziemlich jeder von uns kennt, geht er nur offen und ehrlich mit sich selbst um. Die Umstände des Menschen mögen sich ändern, sein Alltag leichter oder schwerer werden, die Sprache sich wandeln und das Miteinander ein anderes werden, doch trotz und in allem ist der Mensch eben doch nur Mensch, unter der Schale und in seinem innersten Kern.
***
Aber Verstand bleibt Verstand und genügt lediglich der Verstandesfähigkeit des Menschen. Das Wollen ist dagegen die Offenbarung des ganzen Lebens, das heißt, des ganzen menschlichen Lebens, sowohl Verstand als auch anderes Jucken eingeschlossen. Und wenn sich auch unser Leben in dieser Offenbarung oftmals als rechte Nichtswürdigkeit erweist, ist es doch immerhin Leben und nicht Quadratwurzelziehen.
aus: F. M. Dostojewski, Aufzeichnungen aus einem Kellerloch
Antoine de Saint-Exupéry: Nachtflug
Minute um Minute, mit jedem Funkspruch, der eintraf, hatte Rivière das wachsende Gefühl, dem Schicksal etwas zu entreißen, den Einfluß des Unbekannten zu verringern und seine Mannschaft aus der Nacht herauszuziehen ans Ufer.
(aus: Antoine de Saint-Exupéry, Nachtflug)
***
Rivière lässt seine Piloten Nacht für Nacht aufsteigen, egal, was da auch kommen mag und gegen jeden Widerstand von den Gegnern dieser lebensgefährlichen Unternehmung, und Nacht für Nacht verbrennen die Flugmaschinen Meile um Meile des Vorsprungs, den Land- und Wasserkuriere tagsüber angehäuft haben. Doch obwohl die Rechnung aufgeht, sich das Flugwesen mit seinen umstrittenen Nachtflügen als der schnellere Kurier beweist und Rivière sich so in seinem Tun bestätigt sieht, ist die Zerrissenheit sein fester Begleiter in jeder Nachtwache, wenn er auf das sich nähernde Dröhnen der Flugzeugmotoren wartet, bis sie alle, jeder einzelne, endlich da sind, sicher gelandet, unversehrt, heil.
***
Der Leser wird von Antoine de Saint-Exupéry, lebenslang selbst leidenschaftlicher Flieger, in das nächtliche Buenos Aires im Jahr 1928 mitgenommen, an die Seite des verantwortlichen Flugleiters Rivière. Aus Patagonien, Chile und Paraguy kommen Nacht für Nacht die Kuriere und auf sie wartet nicht nur ungeduldig Rivière, sondern auch der Europakurier, der nach ihrer Ankunft in Buenos Aires seinen Nachtflug aufnimmt. Nacht für Nacht dasselbe. Nur in dieser Nacht nicht, diese Nacht ist anders. In dieser Nacht wird eines der Flugzeuge vermisst.
Seite für Seite offenbart sich mehr und mehr die heimliche Zerrissenheit des Flugleiters Rivière, der mit unerbittlicher Härte regiert und für den es keinerlei Entschuldigung für menschliche Schwäche gibt, weil man sie ausmerzen muss, die Schwäche, bevor sie Fuß fassen kann und die Idee, höher als alles andere, das allerhöchste überhaupt, erst gefährdet und dann zerstört.
Was zählt mehr? Ein Menschenleben oder eine Idee? Der einzelne Mensch oder das, was viele Menschen gemeinsam erreichen können, stellt man die Gemeinschaft über das Schicksal des Einzelnen? Menschen leben, Menschen sterben, doch eine Idee, die Hingabe an eine Idee, die lebt weiter und vermag sogar, Unsterblichkeit zu verleihen.
***
Er sagte sich wohl, daß das eine Falle sei: man sieht drei Sterne in einem Loch, man steigt zu ihnen hinauf, dann kann man nicht wieder hinunter und mag da oben bleiben und Sterne beißen...
Aber sein Hunger nach Licht war so stark, daß er aufstieg.
(aus: Antoine de Saint-Exupéry, Nachtflug)
***
Ein Buch, das ich sehr, sehr mag, nicht nur, weil es eine Kostbarkeit unter einer geschätzten Gigatonne geschenkt bekommener Bücher ist, sondern weil es nahe geht, mit seiner Geschichte über die Pioniere der Nachtflüge und in seiner klaren Sprache, die Bilder malt, in einer Kühle, welche die Farben der Bilder umso wärmer macht.
05. August 09
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Ralf Rothmann: Hitze
Doch trotz des vielen Wodkas strahlte er so etwas wie Reinheit aus; besonders wenn er lächelte, machten die Fältchen an den Augenwinkeln den Eindruck, als wären sie kleine, das ganze Leben meinende Anführungszeichen.
(aus: Ralf Rothmann, Hitze)
***
In Berlin lebt DeLoo in einer leblosen, ihm unvergangenen Vergangenheit ohne Punkt am Ende und ohne den Knall oder das leise Klicken, mit dem eine Tür ins Schloss fällt. Unbeirrbar hält er aufrecht, was nicht mehr ist, hegt und pflegt es unter einer traurigen Schicht dicken, erstickenden Staubs. Und als er das Mädchen Lucilla trifft, da scheint es so, als hätte sein Festhalten an Gestern und Vorgestern einen tatsächlichen Sinn gemacht, denn mühelos lässt sie sich einflechten in alle die alten Bilder, so als gäbe keinen lähmenden Stillstand und keinen schmerzhaften Bruch zwischen Gestern und Heute.
***
"Es ist ja falsch zu glauben, daß man im Alter weniger empfindsam wird, Simon, daß einem die Dinge nicht mehr so nahgehen, oder? Das ist eine Lüge, die das Leben uns ins Herz legt, damit wir weitermachen. Immer weiter".
(aus: Ralf Rothmann, Hitze)
***
Auch wenn es auf den ersten Blick so scheint, als wären DeLoo, Lucilla, Klappu und Emil und alle die anderen aus der Großküche, die alte Malerin Frau Andersen oder gar die Stadt Berlin kurz nach der Wende die Hauptfiguren in Rothmanns Roman
Hitze, so sind sie doch allesamt nur stets jene, an deren Hand man als Leser Seite für Seite mitgeht. Die wahre Hauptfigur gleicht dem Buch von der ersten bis zur letzen Seite und ist facettenreich, bitter und süß, spannend, unvorhersehbar, eigenwillig, manchmal verschroben und dunkeltraurig, manchmal überschäumend und berstend vor Hoffnung und Licht. Die eigentliche Hauptfigur in
Hitze ist das Leben, wie es einem Tag für Tag begegnet oder begegnen könnte, würde man sich nur die Zeit nehmen, genau hinzusehen und zuzuhören.
***
Die Hände in den Taschen, ging er um den Keller herum und näherte sich dem Gartenhaus von der Abendseite. Ziegelrote Rohr- und Kabelschächte, das Rückgrat der Leere; durch die Fensterlöcher konnte man drei Stockwerke hoch in das verkohlte Dachgebälk blicken, zwischen dem ein paar krumm gemauerte Schornsteine in den Himmel ragten. Eine lose Tapetenbahn wehte träge im Wind; in einer Tür, die von einem Abgrund in den anderen führte, steckte noch der Schlüssel.
(aus: Ralf Rothmann, Hitze)
***
Ralf Rothmann ist mit
Hitze ein wunderbares Buch gelungen. Ein wirklich wunderbares, an- und berührendes Buch. Ich danke jenem ebenfalls wunderbaren Menschen dafür, mich mit Rothmann bekannt gemacht zu haben. Danke.
05. August 09
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Mario Vargas Llosa: Das böse Mädchen
"Wie haben Sie entdeckt, dass Sie diese Fähigkeit haben, die Absichten des Meeres zu erraten?", fragte ich. "Als Kind? Als junger Mann? Erzählen Sie es mir. Alles, was Sie mir darüber sagen können, interessiert mich sehr."
(aus Mario Vargas Llosa, Das böse Mädchen)
Ricardo, der Erzähler der Geschichte, wächst behütet, sorglos und unbekümmert in seinem Heimatland Peru heran. Ein ganz normaler Junge inmitten seiner ganz normalen Freunde, verlebt eine ganz normale, wunderschöne, freie Kindheit und Jugend in Lima, bis eines Tages aus dem Nichts zwei kleine Chileninnen auftauchen und mit ihrer frechen und forschen Art allen Jungs die Köpfe verdrehen und Ricardo sich in jenem Sommer voller ausgelassener Straßenspiele Hals über Kopf in eine der beiden verliebt.
Viele Jahre später, Ricardo hat seine Heimat verlassen und lebt als Übersetzer in Paris, seiner geliebten Wahlheimat, taucht die kleine Chilenin plötzlich ganz unverhofft wieder auf und Ricardo steht sofort erneut in Flammen. Aber so plötzlich wie sie auftaucht, verschwindet sie auch wieder; zurück bleibt ein liebeskranker junger Peruaner, der seine Herzensdame, von ihm liebevoll
"das böse Mädchen" genannt, niemals mehr vergessen kann.
Das böse Mädchen, das niemals in Chile war, mit den zahllosen Namen, von denen nicht einer ihr wirklicher ist und mit den unzähligen Geschichten im Gepäck, von denen keine wahr ist, kreuzt immer wieder Ricardos Wege. Manchmal liegen wenige Wochen zwischen den Begegnungen, manchmal lange Jahre. Doch wie oft sie ihn auch wie einen geistig minderbemittelten Dummkopf im Regen stehen lässt, auf der Jagd nach Reichtum und Macht, welche sie durch eine raffinierte Heirat zu erhaschen sucht, so oft wickelt sie ihn wieder um den kleinen Finger, immer dann, wenn sie bis zum Halse in Schwierigkeiten steckt und nicht weiter weiß.
Jahr für Jahr vergeht und in jedem einzelnen verflucht Ricardo das böse Mädchen und vergeht gleichzeitig vor Sehnsucht nach ihr. Und dann, in einer leidenschaftlichen Nacht mit dem bösen Mädchen, verrrät und verkauft sie ihn auf eine so üble Weise, dass er ihr auf ewig abschwört und sich die Liebe zu ihr aus dem Herzen reisst.
Weitere lange Jahre später klingelt das Telefon, und als er ihr gegenübersteht, erschrickt er über ihren fürchterlichen Zustand. Todkrank, abgemagert, erbarmenswert fleht sie ihn an, sie nicht abzuweisen. Ricardo, guter Junge und armer Teufel, öffnet erneut Herz, Tür und Tor für das böse Mädchen...
***
Der Ich-Erzähler fängt mit der wunderschönen Erzählung einer unbekümmerten Jugend auf den Straßen Limas an und auch die ersten Begegnungen mit dem bösen Mädchen sind kurzweilig und nachvollziehbar erzählt, doch kurz vor der Mitte des Buches mochte ich nach unzähligen Gemeinheiten und entwürdigenden, demütigenden Arschtritten des bösen Mädchens in den trotteligen, dummdämlichen Hintern des Erzählers nicht mehr weiterlesen. Wie weit lässt sich ein Mensch erniedrigen? Wieviel erträgt Liebe, bis sie zu Verzweiflung und bis aus Verzweiflung Hass wird?
Nach einer längeren Pause nahm ich das Buch wieder zur Hand, denn auch wenn ich die eigentliche Geschichte ermüdend und depremierend fand, so erzählt Mario Vargas Lllosa immer wieder auch in wunderbar gemalten Bildern von Peru und Paris, von dem Leben eines genügsamen Mannes in selbsterwählter Einsamkeit, welche nur durchbrochen wird von den Eskapaden mit dem bösen Mädchen und den Reisen, die sein Beruf ihm ermöglicht.
Das letzte Viertel des Buches nahm schließlich eine Wendung, in der mir nicht nur der gute Junge und arme Teufel leid tat, sondern auch das böse Mädchen. Ich habe ihr verziehen, am Schluss, denn wir alle sind auch die Summe unserer Erfahrungen, unserer verlorenen Träume und Sehnsüchte und unserer Ängste.
***
Keines meiner tatsächlichen Lieblingsbücher, aber nach den Wendungen auf den letzten Seiten bedauere ich es auch nicht, dieses Buch gelesen zu haben.
***
Als Gott am siebenten Tag seiner Schöpfung vom Baume der Erkenntnis aß, erkannte er das Böse seiner Schöpfung und schob es dem Teufel in die Schuhe.
© Erhard Blanck, (*1942),
deutscher Heilpraktiker, Schriftsteller und Maler
05. August 09
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Daniel Kehlmann: Die Vermessung der Welt
Das solle er nie vergessen, sagte der Pastor. Sein Leben lang nicht. Wie klug man auch sei, man habe demütig zu bleiben.
Warum?
Der Pastor bat um Verzeihung. Er habe wohl falsch verstanden.
Nichts, sagte Gauß, gar nichts.
Doch, sagte der Pastor, er wolle das hören.
Er meine es rein theologisch, sagte Gauß. Gott habe einen geschaffen, wie man sei, dann aber solle man sich ständig bei ihm dafür entschuldigen. Logisch sei das nicht.
Der Pastor äußerte die Vermutung, daß etwas mit seinen Ohren nicht stimme.
Gauß holte ein sehr schmutziges Taschentuch hervor und schneuzte sich. Er sei überzeugt, daß er etwas mißverstehe, aber ihm erscheine das wie eine mutwillige Verkehrung von Ursache und Wirkung.
(aus: Daniel Kehlmann, Die Vermessung der Welt)
***
Der Leser begleitet Alexander von Humboldt und Carl Friedrich Gauß, zwei bahnbrechende, geniale Wissenschaftler, von frühen Kindesbeinen an bis ins hohe Alter. Der eine, Humboldt, verschreibt sich der Entdeckung und Erforschung fremder, ferner Länder, durchforstet den Dschungel und besteigt unwirtliche Berge, notiert, katalogisiert, vermisst und kartographiert und untersucht das Innere der Erde. Dabei lässt er mehr als einmal fast sein Leben, denn Entdecker, das war man damals noch ohne Impfung, Sauerstoffzelt und Mobiltelefon. Humboldts einzige, tiefergehende Beziehung ist und bleibt bis zum Ende die zu seinem Bruder; eine Frau oder gar Kinder gibt es nicht in Humboldts Leben.
Der andere, Gauß, verliert sich in der Bezwingung und Entdeckung der Mathematik und der Erkundung und Berechnung der Sterne, setzt dabei kaum einen Fuß vor die Türe, heiratet jedoch und zeugt Nachkommen.
***
Licht, rief Humboldt, das sei nicht Helligkeit, sondern Wissen!
(aus: Daniel Kehlmann, Die Vermessung der Welt)
***
Beide verfolgen vom einen Ende der Erde zum anderen das Tun und den Werdegang des anderen, jedoch erst nach Überschreiten ihrer beider Gipfelpunkte im Forscher- und Entdeckerleben, als sie beide spüren, wie vergänglich Ruhm und Erfolg sind, entspinnt sich zwischen ihnen so etwas wie Freundschaft.
***
Sie wisse schon, jetzt werde er sagen, daß aus der Zukunft zurückgeblickt beide Seiten einander gleichen würden, daß sich bald keiner mehr über das erregen werde, wofür man heute sterbe. Aber was ändere das? Die Anbiederung an die Zukunft sei eine Form der Feigheit. Glaubt er wirklich, man werde dann klüger sein?
Ein wenig schon, sagte er. Notgedrungen.
(aus: Daniel Kehlmann, Die Vermessung der Welt)
***
Ich, vollkommen ahnungslos in der Wissenschaft, weiß nicht, ob es sich zugetragen haben kann, wie es Kehlmann in seinem Buch erzählt. Ich weiß auch nicht, ob wissenschaftlich gesehen jede Zeile, jeder Satz, korrekt ist - kein Wunder, ich bin ja auch keine Wissenschaftlerin, sondern nur eine Leserin, ich muss das auch gar nicht wissen. Ich weiß jedoch, dass mir das Lesen dieses Buches großes Vergnügen bereitet hat, mir die brummelige, kein Blatt vor den Mund nehmende, polternde, verschrobene Art des Herrn Gauß breites Grinsen entlockte und die hinterlistige, doch recht scheinheilige und dabei sehr pfiffige Weise des Herrn Humboldt mich schmunzeln ließ.
Unterhaltsam, manchmal anrührend, manchmal aber auch bitterböse, erzählt Kehlmann in kurzatmigen und lebhaften Absätzen, wie das so ist, als Weltenentdecker und -vermesser, in einer Zeit, in der das Reisen bedeutete, sich tatsächlich auf Pferdestärken zu verlassen und in der man sich noch vor Herzogen und Zaren verbeugte - und beugte. Ich habe keine Ahnung, ob ich als Leserin vergackeumelt wurde, oder ich das Buch weitgehend als authentisch ansehen darf, jedoch weiß ich, dass es so hätte sein können und ich mich herzlich amüsiert habe, während der Vermessung der Welt zwischen Himmel und Erde.
***
Mit gepreßter Stimme fragte Vogt, ob das heiße, der Herr verweigere ihm Genugtuung.
Na sicher. So weit komme es noch, daß er sich von einem Stinkmolch totschießen lasse!
(aus: Daniel Kehlmann, Die Vermessung der Welt)
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Lesenswert, ist meine persönliche Meinung, wenn man zwar von Wissenschaftlern, aber nicht von Wissenschaft unterhalten werden möchte.
05. August 09
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F. M. Dostojewski: Schuld und Sühne
Es springt geradezu in die Augen, daß die meisten dieser Wohltäter und Führer besonders schreckliche Blutshunde waren. Mit einem Wort: ich ziehe den Schluß, daß alle großen Männer - auch jene, die nur ein ganz klein wenig das Alltägliche überragen, daß heißt jene, die nur überhaupt fähig sind, etwas Neues zu sagen - ihrem Wesen nach unbedingt Verbrecher sein müssen... mehr oder weniger selbstverständlich. Sonst fiele es ihnen schwer, das alltägliche Maß zu überschreiten; sie können sich eben, weil das so in ihrer Natur liegt, nicht damit abfinden, im alltäglichen Rahmen zu bleiben, und meiner Meinung nach sind sie sogar verpflichtet, sich nicht damit abzufinden.
(aus: Fjodor M. Dostojewski, Schuld und Sühne)
***
Rodion Romanowitsch Raskolnikow, ehemaliger Student der Rechte, erschlägt in der Mitte des 19. Jahrhunderts in St. Petersburg in Geldnot und bitterer Armut eine alte Pfandleiherin und ihre zufällig hinzu kommende Schwester. Schon vor Ausführung der Tat von labiler Gemütsverfassung, machen ihm nach dem Raubmord Schuldgefühle, Gewissensbisse und Angst vor Entdeckung seiner Täterschaft so schwer zu schaffen, dass sich sein Zustand beständig verschlechtert, er sogar psychosomatisch
(ja, das gab es damals auch schon, das ist keine Erfindung der Neuzeit) schwer erkrankt.
Noch insgeheim davon ausgehend, ungeschoren davon zu kommen, wirft ihn der Besuch seiner ebenfalls bitterarmen Mutter und jüngeren Schwester endgültig aus der Bahn. Er verliert immer wieder die Beherrschung vor Familie und Freunden, ergeht sich abwechselnd in Wutanfällen und kalter Gleichgültigkeit allen und allem gegenüber und erweckt schließlich durch sein Verhalten und seine verwirrten, unbedachten Worte Misstrauen und Aufmerksamkeit des mit dem Fall betrauten Untersuchungsrichter Petrowitsch.
Noch während sich Rasumichin, Rodons engster Freund, ebenfalls ein ehemaliger Student und in grösster Armut lebend, darum bemüht, der Familie den desolaten Geisteszustand Rodons mit einer dem Nervenfieber ähnlichen körperlichen Erkrankung zu erklären und sich rührend um den aggressiv undankbaren Rodon kümmert, sieht dieser sich immer mehr in die Enge getrieben und vertraut sich schließlich Sonja, einer jungen Prostituierten, an.
Als Rodon sich, mit den Nerven am Ende und dennoch weiterhin zwiespältig, ob er nicht doch mangels Beweisen davon kommen würde, der Polizei stellt, folgt Sonja ihm bis ins Arbeitslager, kümmert sich um ihn, berichtet Rodons Mutter und Schwester in regelmässigen Briefen und nimmt seine an Gehässigkeit erinnernde Gleichgültigkeit ihr gegenüber stets ohne Aufbegehren hin. Erst als Rodon sich bei allen Mithäftlingen durch seine zornige, herablassende und distanzierte Art unbeliebt gemacht hat und Sonja krank wird und ihn nicht mehr besuchen kann, löst sich der harte Knoten in Rodons zugeschnürter Brust.
***
Schuld und Sühne erzählt von der Zerissenheit eines jungen Mannes, der zum Mörder geworden ist. Schwermut und Elend umgibt den Leser auf jeder Seite, dazu eine düstere Hoffnungslosigkeit und eine erdrückende Enge sowohl in den ärmlichen Behausungen, als auch in den damaligen gesellschaftlichen Regeln. Krankheit, Leid und Hunger füllen die Tage vom Morgen bis tief in die Nacht - wofür braucht es da noch einen Mord, um in tiefe Depressionen zu verfallen, fragt man sich als Leser beinahe. Dankbar neigt sich das Herz dem jungen Rasumichin zu, der auf seine unvergleichlich rumpelnde und laute Art mit Wärme und Herzlichkeit um sich wirft und auf Teufel komm raus den Freund nicht im Stich lassen will, so sehr dieser auch durch unfreundliches Verhalten danach zu rufen scheint. Und natürlich wünscht man sich, dass die Schwester den alten Sack sausen lässt, der sie als Braut auserkoren hat und eine zumindestens finanziell gesicherte Zukunft verspricht und sie stattdessen den jungen Rasumichin erwählt, der bei ihrem Anblick sofort in Flammen aufging. Was macht es da schon, dass Rasumichin kein Geld hat, wenn er doch dafür Herz und Verstand hat und beides amüsant und anrührend auf der Zunge trägt?
Versöhnlich stimmt am Ende, dass jene, die sich finden sollen, sich auch finden und die, denen man es gewünscht hat, einen kräftigen Tritt in den Arsch bekommen. Die Toten, die jeder auf seine Weise ihre Opfer gebracht haben, bekommen zumindest ein Begräbnis und einige sogar ein würdiges Andenken, andere schaffen sich selbst eines, indem sie Gutes tun, dort wo sie ursprünglich Böses im Sinn gehabt haben.
***
Ein Buch, das man nicht lesen sollte, wenn man selbst gerade in Düsternis wandelt, denn licht ist es nur selten in
Schuld und Sühne. Ein Buch auch, das allen Recht gibt, die meinen, das am Ende immer abgerechnet wird. Und ein Buch, dass am Anfang einen langen Atem verlangt, aber dafür später mit rasanten Verwicklungen, vielen wunderschönen und komplizierten Namen, einigen spannenden Wortgefechten, irrsinnigen Verflechtungen und einem doch zufriedenen warmen Bauch ganz am Ende belohnt. Lesenswert!
05. August 09
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Karl-Heinz Ott: Endlich Stille
Was als lästige, aber harmlose Bahnhofsbekanntschaft, mit der man gegen den eigenen Willen, aber zu überrumpelt, sich aus der Affäre zu ziehen, eine lange Nacht verbringt, deren unheilträchtiges Ende man nur durch eine heimliche Flucht aus der Durchreisestadt entgehen kann, beginnt, entpuppt sich kurz darauf als lähmender, erdrückender Alptraum, aus dem es jeden Tag weniger einen Ausweg zu geben scheint.
***
In Straßburg, bei einem Zwischenhalt, macht der Erzähler des Buches die Bekanntschaft eines enervierend plappernden, aufdringlichen und scheinbar unsensiblen, taktlosen Mannes, welcher sofort das Kommando übernimmt und den Erzähler vollkommen in Beschlag nimmt. Noch in derselben Nacht bleibt dem Erzähler nur noch die heimliche Flucht aus der Stadt und aus den vereinnahmenden Fängen der Reisebekanntschaft Friedrich.
Wieder daheim und die Begebenheit fast schon vergessend, holt ihn die Straßburger Nacht jedoch bald ein und Friedrich nistet sich mit Sack und Pack in der Wohnung des Erzählers und bald auch schon in seinem gesamten Leben ein.
Die erstickende, niederdrückende Situation ist gestrickt aus der hilf- und ideenlosen Feigheit des Erzählers, welcher sich ausserstande sieht, Friedrich energisch entgegenzutreten und ihn in seine Schranken und aus der Wohnung zu weisen. Stattdessen unterwirft der Erzähler sich seinem Schicksal, macht gute Miene zum bösen Spiel und traut sich immer weniger, Friedrich in irgendeiner Weise zurechtzuweisen und zum Teufel zu jagen.
Erst als der Erzähler in abgrundtiefer Verzweiflung aus der eigenen Wohnung und zu seiner Ex-Freundin flüchtet, bei der er spürbar nur geduldet ist, nimmt er sich ein Herz und endlich die Fäden in die eigene Hand.
***
Das Buch begann mir vielversprechend und vergnüglich, denn wer kennt sie nicht, diese Situationen, in denen man Augen und Arsch zusammenkneift, bis alles vorbei ist, weil man den rechten Moment verpasst hat, Einhalt zu gebieten oder das Ruder herumzureissen und nun nur noch irgendwie aus dieser blöden Nummer wieder heil herauskommen will. Grinsend habe ich mich bis zur Mitte des Werkes gelesen um mich dann bald zu fragen, ob das nun ewiglich so weitergeht und nichts anderes als das Geseufze und Gejammere über den ungebetenen Gast mehr kommt. Die Szenen, die einem selbst genauso oder ähnlich hätten passieren können, waren vorüber und ich wartete darauf, dass sich endlich wieder etwas tut. Erst ganz am Ende tat sich dann auch wirklich etwas. Die Erleichterung hierüber war jedoch getrübt von den nun doch unglaubwürdigen und übertriebenen Wendungen, die mir nicht mehr nachvollziehbar erschienen.
Während man sich langweilt, oder auch nicht, es gibt sicherlich Leser, die entzückt sein werden, von
"Endlich Stille", was ich sowohl dem Buch als auch dem Autor gönne, bereist man das Umland um Basel herum, wird mit dem Philosophen Spinoza bekannt gemacht und erfährt von der gewollten Unruhe der Werke des Komponisten Schubert, ein buntes Potpourrin also, welches zwar das Elend des Erzählers ein wenig auflockert, aber am Gesamtbild nichts ändert.
***
Schade, so meine Meinung, aus dem Anfang hätte man mehr machen können. Ein Buch, das ich zwar gerne ins Regal stelle, aber das nicht auf meine persönliche Empfehlungsliste kommen wird.
05. August 09
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Frank Schätzing: Der Schwarm
Mary-Ann scheuchte sie aus dem Küchenzelt, also rotteten sie sich draußen zusammen, dick eingepackt gegen die Kälte, gegen die Schlitten gelehnt, und eine junge Frau begann eine Inuit-Geschichte zu erzählen von der Sorte, die immer wieder und wieder ein bisschen anders erzählt werden. Anawak erinnerte sich, wie sich solche Geschichten mitunter über Tage hingezogen hatten. Die Inuit waren nicht der Meinung, dass man alles in einem Schwung zu Ende erzählen müsse. Die Tage auf dem Eis waren lang. Geschichten waren lang. Warum sie nicht verteilen?
(aus Frank Schätzing: Der Schwarm)
Eines vorweg: Es steht mir nicht zu, ein Buch zu bewerten, ihm einen Stempel aufzudrücken, es "gut" oder "schlecht" zu nennen. Ich kann nur meine persönliche Meinung, meine persönlichen Gedanken dazu äußern. Ein Buch ist ein Buch ist ein Buch, sein Wert steigt oder fällt nicht mit meinem persönlichen Ge- oder Missfallen.
Wer dieses Buch noch im Schrank stehen hat um es zu lesen oder gerade mitten drin ist, irgendwo im Abyssus treibt oder mit einem dumpfen Bauchgefühl an der Reling eines Schiffes steht, sollte es hier gut sein lassen und nicht weiterlesen. Allzu leicht schleichen sich die Gedanken anderer in die eigenen und tun dort so, als wären sie keine frisch erworbenen Vorurteile, sondern gehörten zur eigenen Meinung. Als ich gerade auf den ersten Seiten war, stieß ich im Web auf zahlreiche Seiten, welche dieses Buch als gähnend langweilig bezeichneten, als überaus uninteressantes und vollkommen verqueres Gedankengut, dem zu folgen reine Zeitverschwendung wäre. Ich habe mich dabei erwischt, die nächsten zwanzig, dreißig Seiten eher lustlos und desinteressiert zu überfliegen, was in der Tat reine Zeitverschwendung war und unfair dem Buch gegenüber, welches mir gegenüber keinerlei Vorurteile hegte. (Man beschwert sich mit einem ausgewachsenen Stockschnupfen nicht beim Chefkoch eines exquisiten Restaurants darüber, dass man den Geschmack der Speisen nicht genießen konnte.)
Zurück zum Buch: Recht langsam geht es los, beinahe gemütlich. Ein toter Fischer, daran ist nichts außergewöhnliches, ein paar Würmer, deren Vernichtung sich ein Ölbohrunternehmen legitimieren lassen will. Frank Schätzing schlendert mit dem Leser gemeinsam auf das Zentrum der Handlung zu, ihm hier und da Feldstecher oder Mikroskop reichend, zum Beispiel um die Würmer näher zu betrachten, die irgendwie so ganz anders sind, als Würmer sein sollten, oder um nach Walen Ausschau zu halten, die erst gar nicht auftauchen und von denen man sich später wünscht, sie wären niemals erschienen.
Während man mit gerunzelten Augenbrauen das unglaublich verquere Tun der Meeresbewohner verfolgt, taucht man immer wieder tief hinab in die Meere, darf im begrenzten Lichtkegel, angesichts der vollkommen Dunkelheit lächerlich anmutenden Unterwasserstrahler Schelfkanten in Augenschein nehmen, erfährt, was es mit dem Nordseeöl und den Bohrinseln auf sich hat, besucht Forschungsschiffe und schaut Wissenschaftlern in deren hochtechnisierten Laboratorien über die Schulter, und plötzlich leuchtet es ein, warum Forscher ihr Wissen so oft für sich behalten, niemand dreht sich gerne selber den Geldhahn zu. Schließlich fragt man sich, ob das tatsächlich sein kann, dass die so wissensdurstige Welt mehr über das All weiß als über das, was sich in der dunkelsten Dunkelheit der eigenen Meere abspielt.
Und gerade wenn man staunt und sich wundert und darauf brennt, mehr zu erfahren über das Meer und seine Bewohner, wenn man danach fiebert, noch einmal hinunter tauchen zu dürfen um zu sehen und zu entdecken, verwandeln sich die Ozeane in tödliche Feinde, die sich erheben und menschliches Leben vernichten, gezielt, geplant, mit voller Absicht.
Aus dem Nebeneinander der Schauplätze wird in plötzlichem rasanten Tempo ein Mit- und Durcheinander. Der Leser steckt mittendrin, wendet den Kopf mal hierhin, mal dorthin, entwickelt eigene Theorien und ist manches Mal versucht, dem einen oder anderen vor das Schienbein zu treten, mindestens. Und dann, wenn man meint, sich heillos zu verheddern in einem europäischen Tsunami, plötzlich sinkenden Schiffen, verrückt gewordenen Walen, Hummern und Krabben, gefräßigen Würmern, ratlosen Wissenschaftlern und machtgeilen Politikern, wechselt der Schauplatz, reisst es einen heraus aus dem Tohuwabohu, das die bisher gekannte Weltordnung in Frage stellt und welches niemand sich erklären kann – der Leser übrigens auch nicht, weshalb er sich gerne entführen lässt, in die Ruhe und Stille und Regungslosigkeit der Inuit, bevor er erfährt, dass auch diese, wie wohl alle Indianervölker, ihres eigenen Lebens beraubt und in ein fremdes verpflanzt wurden.
Für das Finale wird der Leser zusammen mit den vertrauten Charakteren, welche noch unter den Lebenden weilen, auf einer schwimmenden Plattform inmitten der grönländischen See ausgesetzt. Die anstehende Vernichtung der Menschheit schweißt Nationen zusammen, vordergründig zumindest, und so wird Tag und Nacht daran gearbeitet, den Feind zu erkennen, denn nur was man kennt, kann man lieben, hassen oder sich ihm unterwerfen. Die Unwichtigkeit, die Nichtigkeit, die völlige Überflüssigkeit der Menschheit für die fremde Intelligenz, deren überwiegende Unsichtbarkeit, gepaart mit Emotionslosigkeit, diese so überaus tödlich macht, vernichtet das Weltbild aller Anwesenden, den Leser eingeschlossen, in kurzen, knappen Streichen. Das scheinbar edle Volk, die angeblich gottgewollte Rasse, der die Welt gehört und der das Schicksal aller Lebensformen auf dem Planten Erde in die Hände gelegt wurde, sieht sich entthront, entmachtet und für nicht erhaltenswert erklärt. Hilflos sieht sich der Mensch seiner Daseinsberechtigung beraubt, sucht vergeblich nach Gründen, warum die Welt sich ohne ihn nicht weiter zu drehen vermag und klammert sich noch immer an seiner angeblichen Überlegenheit, seiner Wichtigkeit, seiner gottgebenen Aufgabe fest.
„Nein, der Mensch verrät die Sache der Welt, indem er ein Missverhältnis schafft zwischen den Lebensformen und ihrer Bedeutung. Er ist die einzige Spezies, die das tut. Wir werten. Es gibt böse Tiere, wichtige Tiere, nützliche Tiere. Wir beurteilen die Natur nach dem, was wir sehen, aber wir sehen nur einen winzigen Ausschnitt, dem wir übersteigerte Bedeutung beimessen... „
(aus Frank Schätzing: Der Schwarm)
Am Ende wird gestorben, reichlich. Ein Inferno aus Wasser und Feuer, darin dicht nebeneinander Nüchternheit und rasender Wahnsinn. Ein verzweifelter, letzter Versuch, den überaus intelligenten Feind, der nicht nach menschlichen Maßstäben bewertet, der sich nicht in Details verliert, sondern sich dem Großen und Ganzen verschrieben hat, von der Wichtigkeit und Nützlichkeit des Menschen zu überzeugen. Ein Gnadengesuch, gerichtet an eine Lebensform, die nicht nach Sympathie oder Antipathie entscheidet und weder Liebe noch Hass kennt.
Ein wenig nehme ich es Frank Schätzing übel, dass er mir die Charaktere seines Buches vorstellt, sie mir nach und nach ans Herz wachsen lässt, nur um sie im Verlauf der Handlung vor meinen Augen sterben zu lassen.
Ein wenig nehme ich ihm auch den tiefen Griff in die Klischeekiste übel. Die USA als alles an sich reissende Macht, vertreten durch eine wahnsinnige, über Leichen gehende, morallose Manipulatorin. Vanderbilt als der einfältige Agent, Sigur Johanson als der alternde Casanova, Anawak als der heimatlose Inuit, dessen Volk, seiner Rechte beraubt, hin- und hergesiedelt wurde, bis es auch den letzten Halt verloren hatte, Jack Greywolf als der bockige Rebell mit dem weichen Herz, um nur ein paar Beispiele zu erwähnen.
Alles dieses ändert jedoch nichts an der Botschaft des Buches, welche sich von mir in ein einziges Wort pressen lassen würde, wollte ich den Versuch wagen, 987 Seiten auf wenige Buchstaben zu reduzieren – was ich jedoch nicht zu tun gedenke, denn sie sind lesenswert, diese 987 Seiten und wenn man es vermag, sich darauf einzulassen, frei von eigener Wertung und allem, was man bisher für wahr und möglich gehalten hat, wird man den eigenen Blickwinkel mehr als einmal verlassen und ein fühlbares Unbehagen wird zu Fragen führen, von denen man bisher nichts einmal wusste, dass sie in dieser Form überhaupt gestellt werden können.
05. August 09
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Bernhard Schlink: Die Heimkehr
Jedesmal kam es mir wieder wie ein Wunder vor, daß die Straße des Lichts, die die Sonne aufs Wasser wirft, ruhig und gleißend in der Mitte und an den Rändern in tanzende Splitter zerspringend, mit dem Schiff mitwanderte. Ich bin sicher, daß schon der Großvater mir erklärt hat, daß das seine optische Richtigkeit hat. Aber noch heute kommt es mir jedesmal wie ein Wunder vor. Die Straße des Lichts beginnt da, wo ich gerade bin.
(aus Bernhard Schlink: Die Heimkehr)
Wer aufgrund des Titels dieses Buches glaubt, dass es, wie bereits in "Bis ich dich finde", um eine Suche geht, hat Recht. Auch hier gibt es einen verlassenen Sohn und einen verschollenen Vater, aber die Hauptfigur des Buches, der Sohn, sucht nicht nach seinem Dad, sondern nach dem Ende eines Romans.
Der Leser begegnet Peter Debauer zum ersten Mal bei dem jährlichen Sommerferienbesuch der Großeltern in der Schweiz. Eine sanfte, stille und warm umarmende Idylle, die im deutlichen Gegensatz zu der disziplinierten und distanzierten Kühle des deutschen Zuhause steht, in dem es nur Peter und seine Mutter gibt.
In der Erinnerung sind die Ferien eine Zeit des ruhigen, tiefen Ein- und Ausatmens. Sie sind die Verheißung eines Lebens des Gleichmaßes. Eines Lebens der Wiederholung, in dem das Gleiche immer wieder und nur ein kleines bißchen anders passiert. Eines Lebens am Wasser, dessen Wellen gleichmäßig anrollen, eine um die andere und doch keine ganz wie die letzte.
(aus Bernhard Schlink: Die Heimkehr)
Durch die Großeltern, welche Peter die Rückseiten zu korrigierender Romanmanuskripte als Mal- und Schmierpapier überlassen, stößt Peter auf den Heimkehrer-Roman: Der Soldat Karl überlebt die Grausamkeiten des Krieges und eine mehr als einmal aussichtslose Flucht. Er findet tatsächlich nach Hause, doch als seine Frau ihm die Türe öffnet, stehen zwei Kinder und ein fremder Mann neben ihr. Hier endet die Geschichte, die weitererzählenden Papierbögen fehlen.
Peter wächst heran, schlägt sich durch ein recht normales und bürgerliches Leben. Er kümmert sich, ohne dazu verpflichtet zu sein, um den Sohn einer ehemaligen Freundin, besucht regelmäßig seine noch immer kühle und distanzierte Mutter, geht seiner ihn nicht wirklich erfüllenden Arbeit in einem Verlag nach und ist oberflächlich zufrieden. Und dann, eines Tages, in einer fremden Stadt, steht er urplötzlich vor dem Haus, welches der Soldat in dem Heimkehrerroman beschrieben hat und Peter will endlich das Ende der Geschichte wissen. Er klingelt, ihm wird geöffnet, er stellt Nachforschungen über die Menschen an, die während Ende des Krieges dort gelebt haben und findet seine große Liebe, welche er kurz darauf kampflos an den heimkehrenden Ehemann verliert.
Zurück in seinem alten Leben, will sich die Zufriedenheit nicht wieder einstellen, nicht einmal oberflächlich. Peter konzentriert sich auf die Suche nach dem Autor des Romans und dem Ende der Geschichte, welche sehr stark an die Irrfahrt des Odysseus erinnert. Weit zurück in die deutsche Geschichte wird Peter dabei geführt und nimmt den Leser mit in die Schrecken des Krieges, setzt ihn dabei aber nur mäßigen Gefahren aus, wofür der eine oder andere sicher dankbar sein wird. Immer stärker kristallisiert sich heraus, dass der Autor des Heimkehrer-Romans ein Mann ist, der sehr gekonnt seine Spuren verwischte. Verschiedene Berufe und Identitäten gestalten die Suche nach ihm zu Peters eigener Odyssee und am Ende stellt sich heraus, dass der Verfasser des Romans, Professor John de Baur, Peters Vater ist, welcher auf eine sehr eigenwillige Weise mit den Schrecken der Vergangenheit umgeht und eine noch eigenwilligere Sichtweise von Gut und Böse hat.
Ich fand Kapitel über die Rolle von Wahrheit und Lüge, Aufklärung und Ideologie im Recht. Oft genug seien Wahrheiten Lügen und Lügen Wahrheiten und schaffe Aufklärung mit der Zerschlagung des einen ideologischen Weltbilds nur Raum für ein anderes. Das heiße nicht, daß es Wahrheit und Lüge nicht gibt. Es heiße, daß wir die Wahrheit und Lüge machen und die Entscheidung, was wahr und was falsch ist, persönlich zu verantworten haben. Auch die Entscheidung, was gut und was böse ist und ob das Böse frei vagabundieren darf oder in den Dienst des Guten treten muß, müßten wir persönlich verantworten. Damit sei mehr und anderes gemeint, als daß wir sie redlich treffen. Der Forderung nach intellektueller Redlichkeit gilt die Verachtung de Baurs. Denn Redlichkeit sie bei einer Entscheidung, die keine Folgen hat, müßig und bei einer Entscheidung, die Folgen hat, zuwenig. Die Entscheidung, Böses im Dienste des Guten einzusetzen, verlange die Bereitschaft, sich selbst dem Bösen auszusetzen.
(aus Bernhard Schlink: Die Heimkehr)
Mich hat vor allem der gekonnte Wechsel zwischen klarer und nüchterner Sprache und wunderschön malerischer Bildersprache fasziniert. Texte, die so komplex sind, dass ich sie mehrmals lesen musste, um sie tatsächlich zu begreifen, oder zumindest, ihren Ansatz zu verstehen, stehen dicht neben solchen, die ich mit einem tiefen Atemzug einatmete.
Die Einfachheit der Hauptfigur macht diese absolut glaubwürdig. Peter Debauer ist kein Held, kein Übermensch, keiner, der alles richtig und gut macht, sondern „einer von uns“. Dass er deshalb langweilig wirkt, verhindert Schlink, welcher auch an den seichten Stellen noch tief erzählt.
Ich muss zugeben, dass mich die eigentliche Geschichte diesen Buches eher weniger interessierte. Dass ich trotzdem bis zur letzten Seite las, ist ein großes Kompliment an Bernhard Schlinks Schreibkunst.
05. August 09
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John Irving: Bis ich dich finde
Jack ist vier Jahre alt, als er, im Gepäck seiner Mutter Alice, seinem Vater William um die halbe Nordsee herum folgt, um diesen an seine Pflicht und Schuldigkeit zu erinnern. William, der sich aus dem Staub gemacht hat, noch bevor Jack das Licht der Welt erblickte, scheint Alice immer eine Nasenlänge voraus zu sein und so bleiben Alice, welche sich notdürftig ihren Lebensunterhalt als Tätowiererin verdient, und der kleine Jack niemals lange an einem Ort, sondern folgen William unbeirrbar, egal, wohin dieser sich auch wendet.
Doch, wo auch immer sie ankommen, William ist schon fort. Überall ließ er gebrochene Mädchen- und Frauenherzen zurück, denn William ist ein Herzensbrecher, einer von der Sorte, der seine Finger, und andere Körperteile, nur allzu gerne in weibliche Honigtöpfe versenkt, bevor er sich aufmacht, die nächste, noch schönere, noch grössere, noch schwierigere Kirchenorgel zu spielen, denn William ist Musiker, genauer gesagt Organist. William liebt die Musik und deshalb lässt er sich in jeder Stadt, die er besuchte und in der er spielte - und nebenbei junge Mädchen verführte -, einige Noten auf seinen Körper tätowieren. Man munkelt bereits, dass er kaum noch eine freie Hautfläche sein eigen nennen könne, so viele gestochene Noten habe er bereits gesammelt.
Alice forscht, fragt und sucht unermüdlich auf Williams Spuren. Sie spricht mit jedem, der auf irgendeine Weise mit William zu tun hatte, natürlich auch mit den Tätowierern der Stadt und wenn sie mit diesen erst einmal über William gesprochen hat, darf sie in den meisten Fällen dort als Tätowiererin anfangen und sich das nötige Geld für die mühselige Reise verdienen. So wird sie im Laufe der Zeit zu „Daughter Alice“ und verschafft sich einen ausgezeichneten Ruf in den Kreisen der gestochenen Körperkunst. Sie arbeitet hart und wenn sie nicht arbeitet, sammelt sie Informationen über William. „Nicht vor Jack!“, sagt sie oft wenn über Dinge gesprochen werden muss, welche sich nicht für die Ohren eines Vierjährigen eignen.
Eines Tages findet die Odyssee von Alice und Jack in Amsterdam ein abruptes Ende. Es heißt, William hätte sich nach Australien aufgemacht und nach Australien will Alice ihm nicht folgen, nein, nicht nach Australien. Alice gibt auf, nach all den Strapazen – für einen Tag hat sie sich sogar unter die Amsterdamer Prostituierten begeben – gibt sie auf. Sie und Jack kehren zurück nach Toronto. Die Suche nach William hat ein Ende.
Als Jack fünf Jahre alt ist, schickt Alice ihn auf eine konfessionelle Mädchenschule. Anscheinend glaubt sie, Jack trage die "schreckliche Veranlagung" seines Vaters in sich und der Besuch einer Mädchenschule könne an Jack retten, was zu retten ist. So kommt es, dass er Emma kennenlernt, eine Zwölfjährige, die "stark auf die Achtzehn" zugeht. Emma nimmt sich des kleinen Jack an, was bedeutet, dass sie ihn nicht nur ständig in der Schule quält, sondern auch, dass sie besonderes Augenmerk auf die Entwicklung seines Penis hat. Praktischerweise hilft sie Jack nachmittags bei den Hausaufgaben, vornehmlich Mathematik, denn Jack kann absolut nicht rechnen, und so ergibt sich für Emma sehr oft die Gelegenheit, Jacks Penis zu begutachten und in der Hand zu halten, darauf wartend, dass Jacks Geschlecht aus seinen Träumen erwacht und neue, andere Träume träumt.
Emma wird zu einem festen Bestandteil in Jacks Leben. Die Art der Beziehung ist eine seltsame, aber keine schlechte, sondern eine, die sowohl Jack als auch Emma auf verschiedene Weisen gut tut und beiden einen gewissen Halt vermittelt. Alice hat sich zunehmend von Jack abgewandt, so, als hätte sie, nun, da William verloren scheint, auch kein Interesse mehr an dem Kind. Jack wächst heran und entwickelt eine Vorliebe für ältere Frauen, welche passenderweise scheinbar auch eine Vorliebe für den jungen Jack ihr eigen nennen.
Als Jack alt genug ist, verlässt er sowohl die Mädchenschule als auch Toronto. Die Verbindung zu Emma reisst niemals ab und als die beiden erwachsen sind, nehmen sie einander wieder an die Hand. Emma hält Jacks Penis, sehr gerne im Kino übrigens. Jack und Emma leben miteinander und lieben einander ohne ein wirkliches Paar zu sein. Sie berühren einander, schlafen in demselben Bett, aber schlafen niemals miteinander. Fernab eines „normalen“ Leben und Daseins, erobern sie jeder für sich Los Angeles: Jack wird ein erfolgreicher Schauspieler, Emma eine gefeierte Autorin – und dann stirbt Emma und nichts ist mehr, wie es gewesen war, oder zumindest den Anschein hatte, zu sein. Jack verliert seinen Halt und auf der Suche nach seinen Wurzeln, nach seiner Wahrheit, bereist er nochmals die Nordsee, diesmal auf den Spuren von Alice und dem kleinen Jack, der er selber einmal war – und alles ist ganz anders, vollkommen anders, als er es in Erinnerung hat. Sind seine Erinnerungen tatsächlich seine eigenen oder sind es die von Alice, die dafür sorgte, dass er die Dinge genau aus dieser, nämlich ihrer Sicht betrachtet?
Und dann ist da noch William, Jacks nichtgefundener Vater....
Ein absolut verqueres Buch! Anstrengend die ersten Wirrungen und Irrungen, amüsant und aufregend die Mitte, fesselnd und durchdringend das Ende. Es sind die teilweise überzeichneten Figuren, die dieses 1140 Seiten starke Buch trotz seiner teilweise sehr anstrengenden Geschichte zu tragen vermögen. Skurril, schrill und überdreht auf der einen Seite, hält es auch ruhige, nachdenkliche Momente bereit.
Meine Botschaft des Buches? Suche und finde die Wahrheit – deine eigene!
05. August 09
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Walter Moers: Die Stadt der träumenden Bücher
Danzelot: "Eins noch, Junge, was du dir merken mußt: Es kommt nicht drauf an, wie eine Geschichte anfängt. Auch nicht darauf, wie sie aufhört."
Ich: "Sondern?"
Danzelot: "Sondern auf das, was dazwischen passiert."
(Zeitlebens hat er keine solche Plattheiten von sich gegeben. Verabschiedete sich nun sein Verstand?)
(aus: Walter Moers, Die Stadt Der Träumenden Bücher)
Es lag wirklich nicht in meiner Absicht, erneut an ein Buch zu geraten, in dem gesucht wird, es passierte einfach so. Als ich das Buch entdeckte und mitnahm, geschah dieses nicht, weil ich dachte "Ah, endlich mal keine Suche" - worüber das Buch erzählt, dafür interessierte ich mich nur am Rande; ich griff nach dem Buch wegen des fantastischen Bildes auf dem Cover, schlug es auf und fand es im Inneren übersät mit unzähligen, wunderschönen und -samen, märchenhaften Illustrationen. Erst zu Hause entdeckte ich, dass ich ein Buch von Walter Moers in den Händen hielt, jener welcher auch für "Käpt´n Blaubär" und "Das kleine Arschloch" verantwortlich ist. Na toll, dachte ich resigniert, ein kindisch albernes Klamaukbuch...
... und genau das befindet sich in den Seiten: ein kindisch alberner Klamauk. Eine vor feiner Ironie, heiterem Spott und herrlichen Albernheiten strotzende Geschichte, in der Ich-Form erzählt von einem Lindwurm namens Hildegunst von Mythenmetz, der die Lindwurmfest verlässt um nach dem Verfasser eines Manuskriptes zu suchen, welches dem wohl größten Literaten aller Zeiten entsprungen sein muss. Am Sterbebett seines Dichtpaten Danzelot (der Dialog zwischen dem Sterbenden und Hildegunst ist eine köstliche Mischung aus schwarzem Humor und kleinen glitzernden Gedankenperlen) versprach Hildegunst, den unbekannten Autor des Manuskriptes ausfindig zu machen, denn so einen begnadeten Schreiber findet man in ganz Zamonien ganz sicher nicht noch einmal.
Und so macht sich Hildegunst, welcher nie zuvor aus der Lindwurmfeste heraus gekommen ist, auf den Weg nach Buchhaim, der Stadt der Träumenden Bücher.
Logisch, dass ein junger, überaus naiver Lindwurm nicht einfach losgeht, den gesuchten Autor findet, ihm die Hand schüttelt und - zack, ist die Geschichte zuende, zumal die Geschichte in Buchhaim spielt, jener Stadt, welche aus den Nähten zu platzen droht von Büchern aus allen bisherigen Zeiten und in der es unterirdische Labyrinthe gibt und Bücherjäger und Schrecksen und Haifischmaden und Hundlinge und Trompaunenkonzerte und Glühkaffee und Bienenbrot, eine Stadt überdies, welche von Legenden und Mythen und unglaublichen Geschichten geradezu überquillt. Logisch auch, dass Hildegunst, der junge Lindwurm, aufs gemeinste gelinkt wird und in den Katakomben landet, in denen es vor zwielichten Gestalten, mordlustigen Ungeheuern, verrottenden antiken Bücher und tödlichen Fallen nur so wimmelt - aber das ist noch nicht alles, denn der Legende nach soll in den tiefsten Tiefen der Katakomben der Schattenkönig leben, das schrecklichste, unheilvollste und tödliche Wesen überhaupt.
Und das gehört alles wirklich Ihnen?", fragte ich blöde. Der Gedanke, dass so viele Bücher einer einzigen Person gehören konnten, kam mir absurd vor.
"Ja. Ich habe es geerbt."
"Das ist das Erbe der Smeiks? Das Erbe Ihrer - Sie müssen verzeihen, es sind Ihre eigenen Worte - verkommenen Familie? Sie muß doch erstaunlich kultiviert gewesen sein."
"Oh, glauben Sie bitte nicht, dass Kultiviertheit und Verkommenheit sich gegenseitig ausschließen", seufzte Smeik. Er nahm eines der Bücher aus dem Regal und betrachtete es versonnen.
(aus: Walter Moers, Die Stadt Der Träumenden Bücher)
Dass der junge Lindwurm mehr als einmal in unangenehme Schwierigkeiten gerät, ist von Anfang an klar. Dass er auf unglaubliche, unvorstellbare Geschöpfe trifft, während er immer tiefer in das Labyrinth gerät auch. Und dass er am Ende auf den Schattenkönig trifft... ja, auch das ist klar. Dass der Schattenkönig ein unglaubliches, düsteres Geheimnis mit sich trägt, nun, das war zu erwarten.
Es gibt viele Schatten im diffusen Licht der Katakomben von Buchhaim. Schatten von lebenden Kreaturen, Schatten von toten Dingen, Schatten von kriechendem, fliegendem, krabbelndem Getier, das rastlos über die Tunneldecken und Bücherregale tanzt und schon manchen in Angst und Schrecken versetzt oder in den Wahnsinn getrieben hat. Eines nicht fernen Tages sei diese körperlose Gemeinde der anarchistischen Zustände überdrüssig geworden und habe sich ein Oberhaupt gewählt, berichtet die Legende. Schatten auf Schatten hätten sie damals übereinander geworfen, eine Nuance Dunkelheit auf die andere, Umriß auf Umriß gestapelt - bis aus allem zusammen eine halb lebendige, halb tote, eine halb feste, halb körperlose, eine halb sichtbare, halb unsichtbare Zwischenkreatur entstanden war. Ihr Herrscher, ihr Geist, ihr Vollstrecker: der Schattenkönig.
(aus: Walter Moers, Die Stadt Der Träumenden Bücher)
Ein Kinderbuch ist Walter Moers "Die Stadt Der Träumenden Bücher" nicht, denn oftmals fallen Köpfe und fließt Blut, brennt es lichterloh oder wird heimtückisch gemeuchelt. Aber ein Buch für Erwachsene ist es, für solche, die noch irgendwo in sich drin ein albernes Kind beherbergen, welches sich liebend gerne in abenteuerlichen Schauergeschichten verlieren möchte und sich auch kniehohe, birnenförmige Zyklopen vorstellen mag, welche Literatur nach ihrem Kaloriengehalt sortieren, um beim Lesen nicht unnötig fett zu werden.
Ich habe dieses Buch erst wegen seiner liebevollen Zeichnungen geliebt und später dann wegen der liebevollen, köstlich albernen Geschichte, welche mich an vielen Stellen lauthals auflachen liess.
Das war wirklich großartig, meine geliebten Freunde! Es reichte nicht, dass der Schattenkönig mich in Lebensgefahr gebracht hatte, nein, jetzt mußte er auch noch anfangen, Kalenderweisheiten abzusondern.
(aus: Walter Moers, Die Stadt Der Träumenden Bücher)
Wer Geschichten mag und sich gerne einmal entführen lässt, fort vom ewig sinnierenden und lamentierenden Ernst des Lebens, der sollte sich von Hildegunst von Mythenmetz mitnehmen lassen...
05. August 09
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