Mittwoch, 12. August 2009
Über Gewicht
Der Gipfel der Unterstreichung der (nichtvorhandenen) Dünnheit ist die aus den Katalogen explodierende Mode, in der an den Oberteilen, zur Zeit neckisch Tunika genannt, ein an ein Taillenband erinnerndes Unterbrustband eingearbeitet ist, welches sogar Normalgewichtige wie Schwangere aussehen lässt und eine grundsätzlich schöne Oberweite zu einer irritierenden Melonenplantage hervorhebt. Die Tunika an sich ist locker fallend geschnitten, es könnte das eine oder andere Pfund mehr wunderbar darin untergebracht werden, wenn, ja wenn diese unter die Brust verschobene Taillierung nicht wäre, welche mich zu der Überzeugung veranlasst, das dieser Modeeffekt an einem ansonsten gewichtsfreundlichen und kaschierenden Bekleidungsstück reine Willkür und allerböseste Absicht ist. Die brusttaillierte Tunika löst übrigens nahtlos die Hüfthosen ab, die sogar an fettfreien Skeletten noch Speckrollen zu formen gewusst haben - eine weitere Willkür und boshafte Absicht.

Für mich erscheint diese Art von Mode als eine bewusst gewollte, provokante Abgrenzung der dünnen bis mageren Menschen von den fast schlanken bis hin zu den eindeutig übergewichtigen. Eine Abgrenzung, die eine unausgesprochene offene Ohrfeige darstellt und die Menschen mit der hier momentan angesagter Idealfigur (in anderen Kulturen fängt Schönheit erst bei 150 Kilo an) aus der breiten (wie doppelsinnig) Masse herausheben soll. Das boshaft Gemeine daran ist, dass der breite Rest es einfach ignorieren könnte und somit, da sie ja prozentual eindeutig die Nase vorn haben, einfach die umhüllende Richtung ändern. Das tut sie aber nicht, stattdessen bedauert sie gezwungermaßen, in dieses nicht hineinzupassen und in jenes auch nicht, bewundert mit resigniert-neidischen Blicken alle, die es mühelos schaffen und unterwirft sich letztlich hilflos dem Modediktat, welches vorschreibt, das ab fünf Kilo mehr Sack und Asche in Braun-, Grau-, Marine- und Olivtönen in mehr oder weniger unsichtbarer oder aber schwindelig machender Musterung angesagt ist. Was soll sie denn auch tun, irgendwas muss die überwiegene Menschheit ja anziehen, wenn sie so tollkühn ist, mit einem nicht einziehbaren Speckbauch das Haus zu verlassen.

Es ist gerade die Minderheit gegenüber der Mehrheit, die Ersteren so viel Spaß bereitet. Als tatsächlich dünner Mensch hat man viel Auswahl im hämischen Grinsen gegenüber den üblichen "Kilolastern", dass man nie in diese abscheuliche Verlegenheit kommt, sich mit sich selbst und den bequem brustabschnürenden Tunikas zu langweilen. Damit das nicht passiert und sich immer jemand von provokantem Starren und/oder Kopfschütteln angesprochen fühlt, setzt man sich als Angehöriger oben erwähnter Minderheit sehr gerne in eine der beliebten deutschen Mittagsshows und lässt dort verlauten, wie sehr man sich vor den Dicken im Freibad ekelt. Damit unterstreicht man die eigene Außergewöhnlichkeit und sorgt dafür, dass die gewöhnlichen Dicken, wenn sie es nur oft genug gesagt bekommen, anfangen, sich gegenseitig voreinander zu ekeln, denn ob Dicksein eklig ist oder nicht, kann natürlich nur jemand beurteilen, der es nicht ist und somit hat dieser Jemand logischerweise Recht in seiner Be- und Verurteilung, denn als Dicker ist man ja befangen und nicht unparteiisch und daher ist es ja über alle Maßen selbstlos und noch viel dankenswerter, dass einem endlich mal jemand die Meinung sagt und die Augen öffnet! Der Dicke an sich kann ja nicht wissen, wie sehr er aus dem Rahmen fällt, inmitten von allen den anderen Dicken! Gut, dass es magersüchtige Frettchen gibt, die aus ihrer neutralen Position heraus sagen, was Sache ist und vor allem, wer das Sagen hat, sowohl im Freibad, als auch in der Mode, die unausgesprochen tagtäglich und allerortens den schmerzhaften, aber dringend notwendigen und dankbar angenommenen Klartext einer Mittagsshow verkündet, welche jedoch nicht, auch wenn es auf den ersten Blick so scheinen mag, die Dicken dazu aufmuntern soll, sich von den überflüssigen Kilos zu befreien, sondern nichts anderes im Sinn hat, als den exotischen Sonderstatus der mageren Minderheit hervorzustreichen.

Die Wirkung solcher Statements, ob offen herausgeplärrt, oder stumm unter die Nase gerieben, ist überwiegend folgende: Der Dicke beginnt zu leiden und sich vor sich selbst zu ekeln. Verzweifelt schaut er an sich hinab und traut sich kaum noch auf die Waage, denn alles, was vorne nicht mit einer Fünf, allenfalls einer Sechs (Zweistellig, wohlgemerkt!) beginnt, ist verabscheuungswürdig und darf nicht ins Freibad. Die große Verzweiflung, die er verspürt, führt jedoch allerhöchstens dazu, dass er sich mit Essen zu beruhigen und betäuben versucht, was wiederum dazu führt, dass der Dicke noch dicker wird. Und damit noch verabscheuungswürdiger, ekliger und kaum noch lebensberechtigt. Und damit hat man sie dort, wo man sie haben wollte: weinend auf dem Fernsehsessel vor einer Mittagsshow, denn ans Freibad wagt der dicke Dicke gar nicht erst zu denken, während eine Bohnenstange in brusttaillierter Tunika über die ekligen Dicken im Strandbad schimpft, die ihr den gesamten Spaß an ihrem Dasein genommen haben.

Dem zu Entgehen ist, zugegeben, nicht einfach, vielleicht sogar unmöglich, denn wer als schlanker Mensch genießt es nicht, sich nicht mit überzähligen Kilos rumplagen zu müssen und somit zu einer bewunderten und begehrten Minderheit zu gehören, in dessen Licht es sich doch gleich doppelt so gut aussehen lässt. Und wer als übergewichtiger Mensch verzweifelt nicht auf der Waage oder beim Kleiderkauf und fühlt sich gleich doppelt so dick, wenn er an einer Hüfthose vorbeikommt, die zwar Speckrollen über dem Bund aufweist, aber doch immerhin einen geschlossenen Knopf und Reißverschluss vorzeigen kann. Mode für "Leute mit Mehr" gibt es inzwischen reichlich, aber zwischen dem, was einem magere Models in bunten Katalogen vorführen, und dem, was man erblickt, wenn man mit dem tollen neuen Outfit vorm Spiegel steht, liegen Welten und letztlich erfährt man als Dicker, dass Dicksein eben nicht mal in Mode für Dicke gut aussieht und niemals hat man sich mehr und so sehr gewünscht, einer Minderheit anzugehören, nur um aus der eigenen miesen Situation herauszukommen und aus der neuen Position heraus der noch immer dicken Mehrheit so richtig ans Bein pissen zu können.



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(Erich Fried)