John Irving: Bis ich dich finde
John Irving: Bis ich dich findeJack ist vier Jahre alt, als er, im Gepäck seiner Mutter Alice, seinem Vater William um die halbe Nordsee herum folgt, um diesen an seine Pflicht und Schuldigkeit zu erinnern. William, der sich aus dem Staub gemacht hat, noch bevor Jack das Licht der Welt erblickte, scheint Alice immer eine Nasenlänge voraus zu sein und so bleiben Alice, welche sich notdürftig ihren Lebensunterhalt als Tätowiererin verdient, und der kleine Jack niemals lange an einem Ort, sondern folgen William unbeirrbar, egal, wohin dieser sich auch wendet.

Doch, wo auch immer sie ankommen, William ist schon fort. Überall ließ er gebrochene Mädchen- und Frauenherzen zurück, denn William ist ein Herzensbrecher, einer von der Sorte, der seine Finger, und andere Körperteile, nur allzu gerne in weibliche Honigtöpfe versenkt, bevor er sich aufmacht, die nächste, noch schönere, noch grössere, noch schwierigere Kirchenorgel zu spielen, denn William ist Musiker, genauer gesagt Organist. William liebt die Musik und deshalb lässt er sich in jeder Stadt, die er besuchte und in der er spielte - und nebenbei junge Mädchen verführte -, einige Noten auf seinen Körper tätowieren. Man munkelt bereits, dass er kaum noch eine freie Hautfläche sein eigen nennen könne, so viele gestochene Noten habe er bereits gesammelt.

Alice forscht, fragt und sucht unermüdlich auf Williams Spuren. Sie spricht mit jedem, der auf irgendeine Weise mit William zu tun hatte, natürlich auch mit den Tätowierern der Stadt und wenn sie mit diesen erst einmal über William gesprochen hat, darf sie in den meisten Fällen dort als Tätowiererin anfangen und sich das nötige Geld für die mühselige Reise verdienen. So wird sie im Laufe der Zeit zu „Daughter Alice“ und verschafft sich einen ausgezeichneten Ruf in den Kreisen der gestochenen Körperkunst. Sie arbeitet hart und wenn sie nicht arbeitet, sammelt sie Informationen über William. „Nicht vor Jack!“, sagt sie oft wenn über Dinge gesprochen werden muss, welche sich nicht für die Ohren eines Vierjährigen eignen.

Eines Tages findet die Odyssee von Alice und Jack in Amsterdam ein abruptes Ende. Es heißt, William hätte sich nach Australien aufgemacht und nach Australien will Alice ihm nicht folgen, nein, nicht nach Australien. Alice gibt auf, nach all den Strapazen – für einen Tag hat sie sich sogar unter die Amsterdamer Prostituierten begeben – gibt sie auf. Sie und Jack kehren zurück nach Toronto. Die Suche nach William hat ein Ende.

Als Jack fünf Jahre alt ist, schickt Alice ihn auf eine konfessionelle Mädchenschule. Anscheinend glaubt sie, Jack trage die "schreckliche Veranlagung" seines Vaters in sich und der Besuch einer Mädchenschule könne an Jack retten, was zu retten ist. So kommt es, dass er Emma kennenlernt, eine Zwölfjährige, die "stark auf die Achtzehn" zugeht. Emma nimmt sich des kleinen Jack an, was bedeutet, dass sie ihn nicht nur ständig in der Schule quält, sondern auch, dass sie besonderes Augenmerk auf die Entwicklung seines Penis hat. Praktischerweise hilft sie Jack nachmittags bei den Hausaufgaben, vornehmlich Mathematik, denn Jack kann absolut nicht rechnen, und so ergibt sich für Emma sehr oft die Gelegenheit, Jacks Penis zu begutachten und in der Hand zu halten, darauf wartend, dass Jacks Geschlecht aus seinen Träumen erwacht und neue, andere Träume träumt.

Emma wird zu einem festen Bestandteil in Jacks Leben. Die Art der Beziehung ist eine seltsame, aber keine schlechte, sondern eine, die sowohl Jack als auch Emma auf verschiedene Weisen gut tut und beiden einen gewissen Halt vermittelt. Alice hat sich zunehmend von Jack abgewandt, so, als hätte sie, nun, da William verloren scheint, auch kein Interesse mehr an dem Kind. Jack wächst heran und entwickelt eine Vorliebe für ältere Frauen, welche passenderweise scheinbar auch eine Vorliebe für den jungen Jack ihr eigen nennen.

Als Jack alt genug ist, verlässt er sowohl die Mädchenschule als auch Toronto. Die Verbindung zu Emma reisst niemals ab und als die beiden erwachsen sind, nehmen sie einander wieder an die Hand. Emma hält Jacks Penis, sehr gerne im Kino übrigens. Jack und Emma leben miteinander und lieben einander ohne ein wirkliches Paar zu sein. Sie berühren einander, schlafen in demselben Bett, aber schlafen niemals miteinander. Fernab eines „normalen“ Leben und Daseins, erobern sie jeder für sich Los Angeles: Jack wird ein erfolgreicher Schauspieler, Emma eine gefeierte Autorin – und dann stirbt Emma und nichts ist mehr, wie es gewesen war, oder zumindest den Anschein hatte, zu sein. Jack verliert seinen Halt und auf der Suche nach seinen Wurzeln, nach seiner Wahrheit, bereist er nochmals die Nordsee, diesmal auf den Spuren von Alice und dem kleinen Jack, der er selber einmal war – und alles ist ganz anders, vollkommen anders, als er es in Erinnerung hat. Sind seine Erinnerungen tatsächlich seine eigenen oder sind es die von Alice, die dafür sorgte, dass er die Dinge genau aus dieser, nämlich ihrer Sicht betrachtet?

Und dann ist da noch William, Jacks nichtgefundener Vater....


Ein absolut verqueres Buch! Anstrengend die ersten Wirrungen und Irrungen, amüsant und aufregend die Mitte, fesselnd und durchdringend das Ende. Es sind die teilweise überzeichneten Figuren, die dieses 1140 Seiten starke Buch trotz seiner teilweise sehr anstrengenden Geschichte zu tragen vermögen. Skurril, schrill und überdreht auf der einen Seite, hält es auch ruhige, nachdenkliche Momente bereit.

Meine Botschaft des Buches? Suche und finde die Wahrheit – deine eigene!