Fjodor Michailowitsch Dostojewskij
Wenn man mich hin und wieder auffordert, doch über dieses oder jenes zu schreiben, mir eine Geschichte, eine Erzählung auszudenken, dann antworte ich meistens, sofern ich überhaupt darauf antworte, dass man über vieles schreiben kann, wenn man es denn mag, aber nur jenes, das man auch fühlt, beim Schreiben, nur jenes, das aus dem eigenen Inneren kommt, es wert ist, erstens geschrieben und zweitens gelesen zu werden. Ich finde, ob es nun stimmt oder nicht, weiß ich nicht, ich finde es aber dennoch, dass man einem Text, egal welchem, anmerkt, ob er aus dem Inneren kommt, aus der Tiefe, von ganz unten, oder ob er den Schreiber nur gestreift hat, im Flug aufgefangen und dann niedergeschrieben wurde.

Einer, der fühlte, was er schrieb, der wusste, wovon er schrieb, der aus der Tiefe hervorholte, was er zu Papier brachte, war Fjodor Michailowitsch Dostojewksij.


Idiotin, August 209


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Doch je näher der Abend heranrückte und je dichter die Dämmerung wurde, desto schneller und verwirrender wechselten meine Empfindungen und auch meine Gedanken. Irgend etwas in mir, in der Tiefe des Herzens, wollte nicht sterben, es wollte nicht sterben und blieb als brennende Sehnsucht.

aus: F. M. Dostojewski, Aufzeichnungen aus einem Kellerloch, erschienen 1864: Vereinsamt und in sich selbst ausweglos gefangen, zerpflückt der Ich-Erzähler das menschliche Miteinander, die menschlichen Werte und das Menschsein an sich auf bittere, giftige, absichtlich vergnügt-boshafte Art. Und unter all den Verunglimpfungen scheint immer wieder die Einsamkeit durch und der heimliche Gedanke, wie es wäre, sich einzulassen, auf die Menschen, ihr Ideen, ihr Miteinander.

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Ich muss zugeben, dass es mir anfangs schwer fiel, mich in Werke und Stil des F. M. Dostojewskij (1821 - 1881) hineinzufinden. Vielleicht lag es aber nicht nur an Dostojewskij allein, sondern daran, dass ich zu jener Zeit, als ich vollkommen ahnungslos mit Schuld und Sühne (auch bekannt als "Verbrechen und Strafe, erschienen 1866") begann, den Kopf voller widerstreitender Gedanken hatte und meine Konzentration gerade ausreichte, mir die Schuhe vernünftig zuzubinden und die Jacke gerade zu knöpfen. Dennoch, obwohl ich mich beinahe abwesend durch das erste Drittel des Buches kämpfte, wirkte es auf mich. Es wirkte in einer Art und Weise, die dafür sorgte, auch die fehlenden beiden Drittel zu lesen.

Vielleicht hätte ich nach diesem ersten Buch nie wieder einen Dostojewskij in die Hände genommen, wäre nicht eines Tages ein wunderbares Päckchen, Weihnachtspost von weit her gekommen, randvoll gefüllt mit dieser Art Bücher, die auch ohne buntes Cover auskommen und die nach langen Jahren im Bücherschrank diesen speziellen leicht muffigen Geruch alten Lesewerks angenommen haben. Dass zwischen den Büchern auch die meinerseits geschickte Tütensuppe "Tomate in Reis" im Paket war, verzieh ich großherzig angesichts der drei Bände "Die Brüder Karamasow" und der zwei Bände "Der Idiot".

Die Brüder Karamasow, erschienen 1878, mochte ich von der ersten Seite an. Bereits die ausschweifende Einleitung des Autors, die Versuche, die Länge des Romans zu erklären und dessen Rahmen grob darzustellen, malten mir ein Lächeln ins Gesicht. Und nach der langen Einleitung, sprang er voll hinein, der Herr Dostojewskij, und man fand sich in einem angespannten Umeinander zwischen einem Vater, der diesen Namen nicht verdient hat und seinen drei Söhnen, Iwan, Dimitrij (Mitja) und Alexej (Aljoscha - der Vorname Dostojewskijs 1875 geborenem Sohn), die weder untereinander, noch mit dem Vater bekannt waren, wieder.

Wie schon in "Schuld und Sühne" ist auch hier der menschliche Abgrund Hauptthema, geht es um die Zerrissenheit zwischen Wollen und Sollen, zwischen Wunsch und Gewissen. Und auch hier gibt es einen Mord, einen Mörder und verzweifelte Liebe. Ermordet wird der Vater, der ein großes Ekel, ein "Hanswurst", ein haltloser und lasterhafter Widerling ist und der Mörder, so will man es wissen, ist der eigene Sohn, den der Vater abgefunden und dabei betrogen hat. Erst viel später, als es zu spät ist und niemand mehr es glauben will, stellt sich heraus, dass es nicht der Sohn war, der erschlagen hat, sondern der aus Mitleid (oder schlechtem Gewissen) vom Vater beschäftigte, fallsüchtige Diener.

"Die Brüder Karamasow" sind voller Gewissenskonflikte. Muss ein Sohn seinen Vater lieben, nur weil er der Vater ist, der Erzeuger? Oder darf ein Sohn seinen Vater auch hassen, weil dieser eben nichts weiter als ein hassenswerter, widerlicher Dreckslumpenhund ist, der sich nie um seine Söhne geschert hat und es auch jetzt nicht vor hat? Oh, und wie gemein, hundsgemein ist es vom Vater, ausgerechnet jener Frau den Hof zu machen, mit Geldscheinen wedelnd und günstige Heirat versprechend, in die sich der Sohn verliebt hat! Zwischen allen den hass- und schulderfüllten Familienkonstellationen ist es für den Diener eine Leichtigkeit, sich insgeheim einzumischen, zu morden, und die Schuld dem Sohn in die Schuhe zu schieben. Diesem Sohn oder einem andern, es sind ja mehr als einer vorhanden. Am Ende, als die Weichen gestellt sind, tröstet der Selbstmord des Dieners auch nicht darüber hinweg, dass der Falsche vor Gericht gezerrt wird, und auch die nun endlich gegenseitig erblühte Liebe, um die er so lange gekämpft hat, kommt einem wie ein Hohn vor. Liebe, jetzt, wo Sibirien droht, jahrelange bis lebenslange Zwangsarbeit, das muss doch nur eine weitere Strafe sein, für etwas, das er nicht getan hat, für das er jedoch büssen muss, alleine deshalb, weil er der Sohn eines Vaters ist, den man niemanden wünscht.

Mit den Namen "Gruschenka" und "Mitja" in Herzen und Kopf, wandte ich mich dem "Idioten", erschienen 1868, zu. Sehr schnell erfahre ich, dass die Hauptfigur, der Fürst, an Epilepsie leidet und zur Heilung dieser schrecklichen Krankheit jahrelang in der Schweiz verweilt hatte. Epilepsie, Fallsucht, daran war auch der Diener im vorherigen Buch erkrankt. Hier jedoch geht Dostojewskij noch einen Schritt weiter und bezeichnet den Epileptiker als Idioten. Aber nicht alleine wegen der fluchgleichen Krankheit alleine nennt er ihn einen Idioten, sondern wegen seiner Ehrlichkeit, Güte und Gerechtigkeit. Jemand, der nicht zu seinem Vorteile handelt, auch nicht zu seinem Vorteile von sich spricht, alleine der Ehrlich- und Gerechtigkeit wegen, der muss ein Idiot sein. Und wenn er sich dann noch schamlos ausnutzen lässt, verzeiht, was unverzeihlich ist, der kann nichts anderes als ein Idiot sein, ganz gleich, ob das menschenfreundlich ist oder nicht. Menschen sind nicht menschenfreundlich, ausser sie sind Idioten.

Natürlich hat es ein Idiot auch in der Liebe nicht einfach und entscheidet sich am Ende nicht für die, die er liebt, sondern für die, die ihn braucht. Und ein Idiot ist eben ein Idiot, bleibt ein Idiot und wird nie etwas anderes ein, weshalb er auch kein glückliches Ende verdient hat, sondern ein idiotisches, wie es einem Idioten angemessen ist.

Ich erwähnte anfangs das Fühlen beim Schreiben, das Schreiben aus der Tiefe, aus dem eigenen Sein. Dostojewski hat sein Leben, sein eigenes Ich, seine Erlebnisse und Erfahrungen in seine Werke eingesponnen. Die Ermordung des eigenen Vaters im Jahre 1839 durch leibeigene Bauern fließt in "Die Brüder Karamasow" ein. Ebenso die Epilepsie Dostojewskijs, die nach anfänglicher Milde ständig schwerere Anfälle hervorruft und ihn immer wieder ins Ausland reisen und nach Linderung oder gar Heilung suchen lässt. Auch in "Der Idiot" ist Epilepsie ein tragendes Thema. Niemals sicher sein können, wann es passiert, immer auf der Hut sein, ob sich erste Anzeichen einstellen. Und dann doch, trotz aller Vorsicht und Selbstbeobachtung überrollt werden und sich nicht dagegen wehren können. Alles das beschreibt er an dem Fürsten, der Hauptfigur im "Idioten" und darüber hinaus macht er aus dem Kranken noch einen Deppen, einen nicht ernstzunehmenden Narren, über den alle nur den Kopf schütteln.

Dostojewskij beschreibt sowohl in "Schuld und Sühne", als auch in "Die Brüder Karamasow" die Verfolgung durch die Justiz, die Ermittlung, das Gericht und das zu erwartende Sibirien. 1849 wird er nach dem Vorlesen eines staatsfeindlichen Textes des Bekannten Belinski vor Gericht gestellt und zum Tode verurteilt. Unmittelbar vor Vollzug des Urteils wurde er begnadigt und stattdessen zu vierjähriger Zwangsarbeit und anschließendem niederen Militärdienst verurteilt. Nachdem 1850 erstmalig Epilepsie diagnostiziert wurde, begnadigt man ihn 1857 aufgrund seiner nunmehr schweren Anfälle endgültig und entlässt ihn 1859 aus dem Militärdienst.

Fast 150 Jahre sind sie alt, die Werke Dostojewskijs, der selbst nur 59 wurde, und doch beschreiben sie dieselben menschlichen Zweifel, Abgründe und Konflikte, wie sie wohl ziemlich jeder von uns kennt, geht er nur offen und ehrlich mit sich selbst um. Die Umstände des Menschen mögen sich ändern, sein Alltag leichter oder schwerer werden, die Sprache sich wandeln und das Miteinander ein anderes werden, doch trotz und in allem ist der Mensch eben doch nur Mensch, unter der Schale und in seinem innersten Kern.

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Aber Verstand bleibt Verstand und genügt lediglich der Verstandesfähigkeit des Menschen. Das Wollen ist dagegen die Offenbarung des ganzen Lebens, das heißt, des ganzen menschlichen Lebens, sowohl Verstand als auch anderes Jucken eingeschlossen. Und wenn sich auch unser Leben in dieser Offenbarung oftmals als rechte Nichtswürdigkeit erweist, ist es doch immerhin Leben und nicht Quadratwurzelziehen.

aus: F. M. Dostojewski, Aufzeichnungen aus einem Kellerloch





sunny11178 am 08.Aug 09  |  Permalink
Mein erster Dostojewski war "Der Spieler". Zu dieser Zeit lernte ich in Mathe gerade die Wahrscheinlichkeitsrechnung, und ich war fasziniert vom Roulette. Dostojewski schafft(e) es einfach, dass man sich von seinen Figuren nicht nur angezogen fühlt, sondern sich in sie hineinversetzen, mit ihnen eins werden kann. Selten habe ich eine Romanfigur so sehr erlebt.

LG Sunny

idiotin am 10.Aug 09  |  Permalink
Er kann das, weil er sie sehr gut kennt, er schreibt sehr, sehr oft über sich selbst, aus sich selbst.

derdeutsche am 29.Sep 09  |  Permalink
Jetzt verstehe ich den / die Idiotin. In diesem Sinne bin ich auch einer.

Gelesen: Schuld und Sühne, Die Dämonen. Es ist wenig noch präsent, Die Dämonen habe ich, glaube ich, gar nicht verstanden. Aus Schuld und Sühne blieb die Qual, unter der Raskolnikov vor und noch mehr nach der Tat litt.

idiotin am 30.Sep 09  |  Permalink
Die Brüder Karamasow, die würde ich Ihnen ans Herz legen, wenn Sie mal genug Zeit und Muße finden.