Frank Schätzing: Der Schwarm
Frank Schätzing: Der SchwarmMary-Ann scheuchte sie aus dem Küchenzelt, also rotteten sie sich draußen zusammen, dick eingepackt gegen die Kälte, gegen die Schlitten gelehnt, und eine junge Frau begann eine Inuit-Geschichte zu erzählen von der Sorte, die immer wieder und wieder ein bisschen anders erzählt werden. Anawak erinnerte sich, wie sich solche Geschichten mitunter über Tage hingezogen hatten. Die Inuit waren nicht der Meinung, dass man alles in einem Schwung zu Ende erzählen müsse. Die Tage auf dem Eis waren lang. Geschichten waren lang. Warum sie nicht verteilen?
(aus Frank Schätzing: Der Schwarm)



Eines vorweg: Es steht mir nicht zu, ein Buch zu bewerten, ihm einen Stempel aufzudrücken, es "gut" oder "schlecht" zu nennen. Ich kann nur meine persönliche Meinung, meine persönlichen Gedanken dazu äußern. Ein Buch ist ein Buch ist ein Buch, sein Wert steigt oder fällt nicht mit meinem persönlichen Ge- oder Missfallen.

Wer dieses Buch noch im Schrank stehen hat um es zu lesen oder gerade mitten drin ist, irgendwo im Abyssus treibt oder mit einem dumpfen Bauchgefühl an der Reling eines Schiffes steht, sollte es hier gut sein lassen und nicht weiterlesen. Allzu leicht schleichen sich die Gedanken anderer in die eigenen und tun dort so, als wären sie keine frisch erworbenen Vorurteile, sondern gehörten zur eigenen Meinung. Als ich gerade auf den ersten Seiten war, stieß ich im Web auf zahlreiche Seiten, welche dieses Buch als gähnend langweilig bezeichneten, als überaus uninteressantes und vollkommen verqueres Gedankengut, dem zu folgen reine Zeitverschwendung wäre. Ich habe mich dabei erwischt, die nächsten zwanzig, dreißig Seiten eher lustlos und desinteressiert zu überfliegen, was in der Tat reine Zeitverschwendung war und unfair dem Buch gegenüber, welches mir gegenüber keinerlei Vorurteile hegte. (Man beschwert sich mit einem ausgewachsenen Stockschnupfen nicht beim Chefkoch eines exquisiten Restaurants darüber, dass man den Geschmack der Speisen nicht genießen konnte.)


Zurück zum Buch: Recht langsam geht es los, beinahe gemütlich. Ein toter Fischer, daran ist nichts außergewöhnliches, ein paar Würmer, deren Vernichtung sich ein Ölbohrunternehmen legitimieren lassen will. Frank Schätzing schlendert mit dem Leser gemeinsam auf das Zentrum der Handlung zu, ihm hier und da Feldstecher oder Mikroskop reichend, zum Beispiel um die Würmer näher zu betrachten, die irgendwie so ganz anders sind, als Würmer sein sollten, oder um nach Walen Ausschau zu halten, die erst gar nicht auftauchen und von denen man sich später wünscht, sie wären niemals erschienen.

Während man mit gerunzelten Augenbrauen das unglaublich verquere Tun der Meeresbewohner verfolgt, taucht man immer wieder tief hinab in die Meere, darf im begrenzten Lichtkegel, angesichts der vollkommen Dunkelheit lächerlich anmutenden Unterwasserstrahler Schelfkanten in Augenschein nehmen, erfährt, was es mit dem Nordseeöl und den Bohrinseln auf sich hat, besucht Forschungsschiffe und schaut Wissenschaftlern in deren hochtechnisierten Laboratorien über die Schulter, und plötzlich leuchtet es ein, warum Forscher ihr Wissen so oft für sich behalten, niemand dreht sich gerne selber den Geldhahn zu. Schließlich fragt man sich, ob das tatsächlich sein kann, dass die so wissensdurstige Welt mehr über das All weiß als über das, was sich in der dunkelsten Dunkelheit der eigenen Meere abspielt.

Und gerade wenn man staunt und sich wundert und darauf brennt, mehr zu erfahren über das Meer und seine Bewohner, wenn man danach fiebert, noch einmal hinunter tauchen zu dürfen um zu sehen und zu entdecken, verwandeln sich die Ozeane in tödliche Feinde, die sich erheben und menschliches Leben vernichten, gezielt, geplant, mit voller Absicht.

Aus dem Nebeneinander der Schauplätze wird in plötzlichem rasanten Tempo ein Mit- und Durcheinander. Der Leser steckt mittendrin, wendet den Kopf mal hierhin, mal dorthin, entwickelt eigene Theorien und ist manches Mal versucht, dem einen oder anderen vor das Schienbein zu treten, mindestens. Und dann, wenn man meint, sich heillos zu verheddern in einem europäischen Tsunami, plötzlich sinkenden Schiffen, verrückt gewordenen Walen, Hummern und Krabben, gefräßigen Würmern, ratlosen Wissenschaftlern und machtgeilen Politikern, wechselt der Schauplatz, reisst es einen heraus aus dem Tohuwabohu, das die bisher gekannte Weltordnung in Frage stellt und welches niemand sich erklären kann – der Leser übrigens auch nicht, weshalb er sich gerne entführen lässt, in die Ruhe und Stille und Regungslosigkeit der Inuit, bevor er erfährt, dass auch diese, wie wohl alle Indianervölker, ihres eigenen Lebens beraubt und in ein fremdes verpflanzt wurden.

Für das Finale wird der Leser zusammen mit den vertrauten Charakteren, welche noch unter den Lebenden weilen, auf einer schwimmenden Plattform inmitten der grönländischen See ausgesetzt. Die anstehende Vernichtung der Menschheit schweißt Nationen zusammen, vordergründig zumindest, und so wird Tag und Nacht daran gearbeitet, den Feind zu erkennen, denn nur was man kennt, kann man lieben, hassen oder sich ihm unterwerfen. Die Unwichtigkeit, die Nichtigkeit, die völlige Überflüssigkeit der Menschheit für die fremde Intelligenz, deren überwiegende Unsichtbarkeit, gepaart mit Emotionslosigkeit, diese so überaus tödlich macht, vernichtet das Weltbild aller Anwesenden, den Leser eingeschlossen, in kurzen, knappen Streichen. Das scheinbar edle Volk, die angeblich gottgewollte Rasse, der die Welt gehört und der das Schicksal aller Lebensformen auf dem Planten Erde in die Hände gelegt wurde, sieht sich entthront, entmachtet und für nicht erhaltenswert erklärt. Hilflos sieht sich der Mensch seiner Daseinsberechtigung beraubt, sucht vergeblich nach Gründen, warum die Welt sich ohne ihn nicht weiter zu drehen vermag und klammert sich noch immer an seiner angeblichen Überlegenheit, seiner Wichtigkeit, seiner gottgebenen Aufgabe fest.

„Nein, der Mensch verrät die Sache der Welt, indem er ein Missverhältnis schafft zwischen den Lebensformen und ihrer Bedeutung. Er ist die einzige Spezies, die das tut. Wir werten. Es gibt böse Tiere, wichtige Tiere, nützliche Tiere. Wir beurteilen die Natur nach dem, was wir sehen, aber wir sehen nur einen winzigen Ausschnitt, dem wir übersteigerte Bedeutung beimessen... „
(aus Frank Schätzing: Der Schwarm)



Am Ende wird gestorben, reichlich. Ein Inferno aus Wasser und Feuer, darin dicht nebeneinander Nüchternheit und rasender Wahnsinn. Ein verzweifelter, letzter Versuch, den überaus intelligenten Feind, der nicht nach menschlichen Maßstäben bewertet, der sich nicht in Details verliert, sondern sich dem Großen und Ganzen verschrieben hat, von der Wichtigkeit und Nützlichkeit des Menschen zu überzeugen. Ein Gnadengesuch, gerichtet an eine Lebensform, die nicht nach Sympathie oder Antipathie entscheidet und weder Liebe noch Hass kennt.

Ein wenig nehme ich es Frank Schätzing übel, dass er mir die Charaktere seines Buches vorstellt, sie mir nach und nach ans Herz wachsen lässt, nur um sie im Verlauf der Handlung vor meinen Augen sterben zu lassen.
Ein wenig nehme ich ihm auch den tiefen Griff in die Klischeekiste übel. Die USA als alles an sich reissende Macht, vertreten durch eine wahnsinnige, über Leichen gehende, morallose Manipulatorin. Vanderbilt als der einfältige Agent, Sigur Johanson als der alternde Casanova, Anawak als der heimatlose Inuit, dessen Volk, seiner Rechte beraubt, hin- und hergesiedelt wurde, bis es auch den letzten Halt verloren hatte, Jack Greywolf als der bockige Rebell mit dem weichen Herz, um nur ein paar Beispiele zu erwähnen.
Alles dieses ändert jedoch nichts an der Botschaft des Buches, welche sich von mir in ein einziges Wort pressen lassen würde, wollte ich den Versuch wagen, 987 Seiten auf wenige Buchstaben zu reduzieren – was ich jedoch nicht zu tun gedenke, denn sie sind lesenswert, diese 987 Seiten und wenn man es vermag, sich darauf einzulassen, frei von eigener Wertung und allem, was man bisher für wahr und möglich gehalten hat, wird man den eigenen Blickwinkel mehr als einmal verlassen und ein fühlbares Unbehagen wird zu Fragen führen, von denen man bisher nichts einmal wusste, dass sie in dieser Form überhaupt gestellt werden können.