"Du bist doch so ein großer Fan von Scott Fitzgerald. Hat der nicht geschrieben, man solle nie einem Menschen trauen, der von sich behauptet, er sei durchschnittlich? Du hast mir das Buch selbst geliehen", sagte Naoko mit einem verschmitzten Lächeln.
"Stimmt, aber ich habe mich ja nicht bewusst dafür entschieden, durchschnittlich zu sein. Ich bin wirklich zutiefst davon überzeugt, ein Durchschnittsmensch zu sein. Oder kannst du an mir etwas entdecken, das nicht durchschnittlich ist?"
(aus Haruki Murakami: Naokos Lächeln)
Tōru Watanabe ist scheinbar tatsächlich ein Durchschnittsmensch. Er ist sogar scheinbar so durchschnittlich, dass er die Aufstände seiner Mitstudenten der Sechziger in Tōkyō nur aus der Ferne beobachtet und sich in das zurückgelassene Mädchen seines Freundes Kizuki verliebt, welcher nach einem gewöhnlichen Durchschnittsabend seinem Leben plötzlich ein Ende setzte. Während er stundenlang schweigend mit Naoko durch die Straßen Tōkyōs wandert, ihren ziellosen Schritten einfach folgend, und selbst nicht sagen kann, warum er das tut und wohin diese Wanderungen führen sollen, vögelt er am Wochenende jedes Mädchen, das besoffen genug ist, sich in ein Hotelzimmer locken zu lassen. Und zwischen den alkoholisierten Wochenendnächten und den mit Naoko verwanderten Sonntagen widmet er sich seinem Studium, jobbt für seinen Unterhalt und zerliest immer wieder dieselben Exemplare seiner Lieblingsbücher, denn was sonst sollte er auch tun, außer diesem.
Nach ihrem 20. Geburtstag, den sie gemeinsam verbracht und an dem sie zum ersten Mal miteinander geschlafen hatten, verschwindet Naoko plötzlich spurlos. Erst Monate später erhält Tōru Antwort auf seine Briefe. Naoko hat sich in ein weit weg gelegenes Sanatorium begeben und sucht in der Abgeschiedenheit nach Erholung.
Ich las den Brief immer wieder, hundertmal, und bei jedem Mal überkam mich unsägliche Traurigkeit. Es war genau die Traurigkeit, die ich empfunden hatte, wenn Naoko mir in die Augen sah.
(aus Haruki Murakami: Naokos Lächeln)
Während Tōru darum bemüht ist, zu begreifen, was Naoko bewogen hat, ein Sanatorium aufzusuchen, lernt er die lebhafte Midori kennen, und noch bevor er selbst es begreift, weiß es der Leser schon längst: er verliebt sich in Midori. Doch da ist immer noch Naoko, die er nach langem Warten endlich besuchen darf, die ihn jetzt braucht und die so lange Teil seines Lebens war, erst als Freundin des freiwillig aus dem Leben geschiedenen Freundes, und nun an seiner Seite.
Ein Wollen und Nichtkönnen beginnt. Ein Wanken und Schwanken zwischen der traurigen und labilen Naoko und der fröhlichen, lebendigen Midori, die klammheimlich eine schwere Bürde meistert.
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Haruki Murakami ist es gelungen, bauchkribbelnde, frische, junge Leidenschaft mit Unglück und tragischen, jungen Freitoden zu verknüpfen. Dass die Waagschale nicht kippt, dafür sorgt seine Figur Tōru Watanabe, der in seiner scheinbaren Durchschnittlichkeit das Geschehen ringsherum ohne große Gegenwehr annimmt, wie es kommt und es so gut er kann, bewältigt.
Viele kleine Nebenschauplätze, wie der Zimmergenosse im Studentenwohnheim, der seltsame, wahllos frauenbesteigende Mitstudent und dessen herzzerreissend duldsame Freundin, die liebevolle, dem Außenleben entfremdete Mitpatientin Naokos, vermögen es, die Schwere, die sich immer mal wieder einzustellen droht, aufzulockern und die Seiten mit freundlicher Farbe zu bestreichen.
Naokos Lächeln ist viel mehr als nur eine Liebesgeschichte. Es ist die Suche eines jungen Menschen nach seinem Weg inmitten von tragischen Wegen. Die Suche nach ein bisschen Glück inmitten von Tumult und Unglück. Und, so habe ich es empfunden, die Frage danach, ob es ihm überhaupt erlaubt ist, das Glück, oder ob er sich nicht neben jene zu stellen hat, denen es versagt geblieben ist.
Ein kühnes Buch, das der Tragödie nicht die Tragik nimmt, aber dem Glück auch nicht den Glanz.