Über Gewicht
Der Gipfel der Unterstreichung der (nichtvorhandenen) Dünnheit ist die aus den Katalogen explodierende Mode, in der an den Oberteilen, zur Zeit neckisch Tunika genannt, ein an ein Taillenband erinnerndes Unterbrustband eingearbeitet ist, welches sogar Normalgewichtige wie Schwangere aussehen lässt und eine grundsätzlich schöne Oberweite zu einer irritierenden Melonenplantage hervorhebt. Die Tunika an sich ist locker fallend geschnitten, es könnte das eine oder andere Pfund mehr wunderbar darin untergebracht werden, wenn, ja wenn diese unter die Brust verschobene Taillierung nicht wäre, welche mich zu der Überzeugung veranlasst, das dieser Modeeffekt an einem ansonsten gewichtsfreundlichen und kaschierenden Bekleidungsstück reine Willkür und allerböseste Absicht ist. Die brusttaillierte Tunika löst übrigens nahtlos die Hüfthosen ab, die sogar an fettfreien Skeletten noch Speckrollen zu formen gewusst haben - eine weitere Willkür und boshafte Absicht.

Für mich erscheint diese Art von Mode als eine bewusst gewollte, provokante Abgrenzung der dünnen bis mageren Menschen von den fast schlanken bis hin zu den eindeutig übergewichtigen. Eine Abgrenzung, die eine unausgesprochene offene Ohrfeige darstellt und die Menschen mit der hier momentan angesagter Idealfigur (in anderen Kulturen fängt Schönheit erst bei 150 Kilo an) aus der breiten (wie doppelsinnig) Masse herausheben soll. Das boshaft Gemeine daran ist, dass der breite Rest es einfach ignorieren könnte und somit, da sie ja prozentual eindeutig die Nase vorn haben, einfach die umhüllende Richtung ändern. Das tut sie aber nicht, stattdessen bedauert sie gezwungermaßen, in dieses nicht hineinzupassen und in jenes auch nicht, bewundert mit resigniert-neidischen Blicken alle, die es mühelos schaffen und unterwirft sich letztlich hilflos dem Modediktat, welches vorschreibt, das ab fünf Kilo mehr Sack und Asche in Braun-, Grau-, Marine- und Olivtönen in mehr oder weniger unsichtbarer oder aber schwindelig machender Musterung angesagt ist. Was soll sie denn auch tun, irgendwas muss die überwiegene Menschheit ja anziehen, wenn sie so tollkühn ist, mit einem nicht einziehbaren Speckbauch das Haus zu verlassen.

Es ist gerade die Minderheit gegenüber der Mehrheit, die Ersteren so viel Spaß bereitet. Als tatsächlich dünner Mensch hat man viel Auswahl im hämischen Grinsen gegenüber den üblichen "Kilolastern", dass man nie in diese abscheuliche Verlegenheit kommt, sich mit sich selbst und den bequem brustabschnürenden Tunikas zu langweilen. Damit das nicht passiert und sich immer jemand von provokantem Starren und/oder Kopfschütteln angesprochen fühlt, setzt man sich als Angehöriger oben erwähnter Minderheit sehr gerne in eine der beliebten deutschen Mittagsshows und lässt dort verlauten, wie sehr man sich vor den Dicken im Freibad ekelt. Damit unterstreicht man die eigene Außergewöhnlichkeit und sorgt dafür, dass die gewöhnlichen Dicken, wenn sie es nur oft genug gesagt bekommen, anfangen, sich gegenseitig voreinander zu ekeln, denn ob Dicksein eklig ist oder nicht, kann natürlich nur jemand beurteilen, der es nicht ist und somit hat dieser Jemand logischerweise Recht in seiner Be- und Verurteilung, denn als Dicker ist man ja befangen und nicht unparteiisch und daher ist es ja über alle Maßen selbstlos und noch viel dankenswerter, dass einem endlich mal jemand die Meinung sagt und die Augen öffnet! Der Dicke an sich kann ja nicht wissen, wie sehr er aus dem Rahmen fällt, inmitten von allen den anderen Dicken! Gut, dass es magersüchtige Frettchen gibt, die aus ihrer neutralen Position heraus sagen, was Sache ist und vor allem, wer das Sagen hat, sowohl im Freibad, als auch in der Mode, die unausgesprochen tagtäglich und allerortens den schmerzhaften, aber dringend notwendigen und dankbar angenommenen Klartext einer Mittagsshow verkündet, welche jedoch nicht, auch wenn es auf den ersten Blick so scheinen mag, die Dicken dazu aufmuntern soll, sich von den überflüssigen Kilos zu befreien, sondern nichts anderes im Sinn hat, als den exotischen Sonderstatus der mageren Minderheit hervorzustreichen.

Die Wirkung solcher Statements, ob offen herausgeplärrt, oder stumm unter die Nase gerieben, ist überwiegend folgende: Der Dicke beginnt zu leiden und sich vor sich selbst zu ekeln. Verzweifelt schaut er an sich hinab und traut sich kaum noch auf die Waage, denn alles, was vorne nicht mit einer Fünf, allenfalls einer Sechs (Zweistellig, wohlgemerkt!) beginnt, ist verabscheuungswürdig und darf nicht ins Freibad. Die große Verzweiflung, die er verspürt, führt jedoch allerhöchstens dazu, dass er sich mit Essen zu beruhigen und betäuben versucht, was wiederum dazu führt, dass der Dicke noch dicker wird. Und damit noch verabscheuungswürdiger, ekliger und kaum noch lebensberechtigt. Und damit hat man sie dort, wo man sie haben wollte: weinend auf dem Fernsehsessel vor einer Mittagsshow, denn ans Freibad wagt der dicke Dicke gar nicht erst zu denken, während eine Bohnenstange in brusttaillierter Tunika über die ekligen Dicken im Strandbad schimpft, die ihr den gesamten Spaß an ihrem Dasein genommen haben.

Dem zu Entgehen ist, zugegeben, nicht einfach, vielleicht sogar unmöglich, denn wer als schlanker Mensch genießt es nicht, sich nicht mit überzähligen Kilos rumplagen zu müssen und somit zu einer bewunderten und begehrten Minderheit zu gehören, in dessen Licht es sich doch gleich doppelt so gut aussehen lässt. Und wer als übergewichtiger Mensch verzweifelt nicht auf der Waage oder beim Kleiderkauf und fühlt sich gleich doppelt so dick, wenn er an einer Hüfthose vorbeikommt, die zwar Speckrollen über dem Bund aufweist, aber doch immerhin einen geschlossenen Knopf und Reißverschluss vorzeigen kann. Mode für "Leute mit Mehr" gibt es inzwischen reichlich, aber zwischen dem, was einem magere Models in bunten Katalogen vorführen, und dem, was man erblickt, wenn man mit dem tollen neuen Outfit vorm Spiegel steht, liegen Welten und letztlich erfährt man als Dicker, dass Dicksein eben nicht mal in Mode für Dicke gut aussieht und niemals hat man sich mehr und so sehr gewünscht, einer Minderheit anzugehören, nur um aus der eigenen miesen Situation herauszukommen und aus der neuen Position heraus der noch immer dicken Mehrheit so richtig ans Bein pissen zu können.




monolog am 13.Aug 09  |  Permalink
Ich kenne ein paar richtig leckere Dicke, die sich nicht in Säcken verhüllen, sondern selbstbewusst "normal" tragen und zu ihren vielen Rollen stehen. Ich weiß nicht, wie groß das eigene Selbstvertrauen dafür sein muss, aber ich staune immer wieder, wenn ich sie sehe. Was sie sich einfach gegen die Blicke anderer trauen, wie gut sie aussehen, und wie, ich wiederhole mich, lecker. edit ich korrigiere letzteres: Ich wundere mich nicht darüber, ich freue mich. So.

Kein bulimisches Frettchen dieser Welt sollte das Recht haben, sich derart über andere zu äußern. Tut es es doch, diskreditiert es sich bereits selbst. Das als Angesprochener nicht nur objektiv, sondern auch subjektiv anzuerkennen, ist natürlich die schwierigere Aufgabe.

idiotin am 13.Aug 09  |  Permalink
... Ich kenne ein paar richtig leckere Dicke, die sich nicht in Säcken verhüllen, sondern selbstbewusst "normal" tragen und zu ihren vielen Rollen stehen. Ich weiß nicht, wie groß das eigene Selbstvertrauen dafür sein muss ...

Bei manchen hat das was von "wenn schon Untergang, dann wenigstens Titanic". Nein, nicht falsch verstehen, ich finde das bewundernswert, wie unbekümmert manche ohne Hochglanzmagazinfigur sich der Welt zeigen, egal, welcher Art die Blicke sind. Allerdings machen einige das aus anderen Gründen, als dem ausgeprägten Selbstbewusstsein, sondern aus purem Trotz heraus. Wenn die schon blöde gucken, dann sollen sie richtig was zu gucken kriegen und dann kann ich mir aussuchen, ob die wegen der Kombi lindgrün mit Glitzertürkis gucken, oder wegen der Quadratform insgesamt. Dieses betrifft aber nicht nur Hochglanznichtidealfälle, sondern auch viele Magerhaken, denke ich.

big grrrl am 13.Aug 09  |  Permalink
Pipi ans Bein - no no...
...damit wird den Menschen ja grundsätzlich Häme unterstellt. Ich persönlich bin der festesten Überzeugung, dass Dicke nicht nur in Klamotten für Dicke, sondern manchmal sogar in Klamotten für Dünne gut aussehen können - so sie dann hereinpassen (Stichwort Stretch). Zukünftig kannst du dazu auch meinen Blog bestaunen:
http://www.biggrrrlblog.blogspot.com/
Und ganz abgesehen davon ist die Welt nicht schwarz und weiß, nicht dick und nicht dünn, nicht schön oder hässlich....die Wahrheit liegt immer irgendwo dazwischen und bekanntlich im Auge des Betrachters.
Selbst wenn mancher übergewichtige sich mal weniger schwer wünschen mag - heulend in den Talkshows sitzen deswegen die allerwenigsten.
Schöner Text ansonsten. Irgendwie verschachtelt :)

idiotin am 14.Aug 09  |  Permalink
Es gibt DIE Wahrheit ja gar nicht, denn auch wenn drei Menschen genau dasselbe erleben, zugleich, miteinander, werden sie hinterher danach befragt, sehr unterschiedlich darüber erzählen, fragt man detailliert nach.

dhonau am 14.Aug 09  |  Permalink
nun ja, aus diesem argument folgt ja zunächst nur, daß sie nicht bei EINEM, sagen wir mal, beobachter liegt

idiotin am 14.Aug 09  |  Permalink
Dann jedoch muss man auch sagen, dass die Wahrheit, die allen Erzählungen gemeinsam entspringt, abhängig davon ist, WEM sie erzählt worden ist und wie dieser sie wiedererzählt.

giardino am 13.Aug 09  |  Permalink
Ich kenne Dünne, die gleichermaßen darunter leiden, dass sie andauernd auf ihr Dünnsein (für das sie meist ebensoviel können wie Dicke für ihr Dicksein) angesprochen und bemitleidet werden ("Hungerhaken", "magersüchtig", "meingott iss doch was", ...). Und keinen Schlanken bei Freunden und Verwandten, der es genießt, dass es Weniger-Schlanke gibt, weil er damit in irgendein anderes, besseres Licht rücken würde.

"Die Medien", "die Dünnen", "die Textilhersteller" — das ist mir alles zu einfach. Die Verurteilung sitzt im eigenen Kopf. Allein vorm Spiegel findet doch die größte Demütigung statt, nicht im Freibad. Es gibt Millionen Menschen, die einen wegen irgendwelcher Eigenschaften oder Verhaltensweisen verurteilen würden, wo es uns meist völlig wurscht ist, weil wir so sind und nicht anders sein wollen. Warum also nicht, wenn es um den Bauchumfang geht?

Diejenigen, die sich tatsächlich laut übers Dicksein mokieren, sind schlicht Arschlöcher. Denen wäre auch jedes andere Argument willkommen, um sich auf Kosten anderer als die besseren Menschen fühlen zu können. Oder anderen Menschen vorschreiben zu können, wie sie zu sein und zu leben haben.

(Und wer sich Nachmittagstalkshows und ihre Protagonisten auch nur länger als 5 Minuten anhört, geschweige denn ernst nimmt als Stimmen, die zum eigenen Leben und Erleben irgendetwas von Belang sagen, egal zu welchem Thema, ist selbst schuld. So.)

idiotin am 14.Aug 09  |  Permalink
Haha, jaaaa, sicher werden Hungerhaken auch nicht unbeachtet bleiben, jedoch ist diese Aufmerksamkeit eine fürsorgliche, zugewandte, während die Aufmerksamkeit einem Dicken gegenüber doch eher abwertend erscheint.

Die Textilhersteller richten sich nach dem, was verkauft werden kann und das ist das, was "in" ist. Und was "in" ist, das erfährt man durch die Medien. Und die fangen die Stimmung in der Nation ein. Und diese wiederum wird durch die Medien verstärkt.

Es ist nunmal so, dass die ersten paar Sekunden zuerst einmal die Grundeinstellung einem bis dahin fremden Menschen gegenüber festlegen und daher von dessen Äußerem, seiner Figur, seiner Kleidung, seinem Gang, seinen Gesten abhängt.

Dass man als Übergewichtiger irgendwann überempfindlich wird, hängt damit zusammen, dass man ein paar Mal die Erfahrung gemacht hat, abgelehnt, verachtet, verspottet zu werden. Es verknüpft sich Ablehnung, Verachtung, Spott dann recht rapide mit dem eigenen Äußeren und irgendwann bezieht sich, zumindest gefühlt, jeder blöde Blick, jedes hämische Lachen, jede blöde Bemerkung auf die eigene Figur.

Wer Mittagsshows schaut, hat zuviel Zeit, zuviel Langeweile oder erfreut sich an der Peinlichkeit anderer. Ich habe Bügelarbeiten inzwischen auf den Abend verlegt, da kommt zwar auch nichts sehenswertes im Fernsehen, aber ich muss nicht mehr ans Telefon rennen und kann i-Pod hören.

Eine abschließende Bemerkung: ich habe keine Hochglanzmagazinfigur, aber kann ganz normal im Klamottenladen kaufen, was nicht immer so war. Ich kenne diese Blicke, die Sprüche, die hochgezogenen Augenbrauen, das Kopfschütteln sehr gut. Ich kenne die Situation, wenn man in den Läden in der Stadt nichts zum Anziehen findet, wenn man sich nicht ins Freibad traut oder in ein normales Café, um dort ein Eis zu essen, denn die Bemerkung "muss denn die Dicke da jetzt auch noch ein Eis in sich reinstopfen" bleibt ja doch irgendwie hängen, ungewollt. Ich habe das alles inzwischen hinter mir gelassen, habe sehr hart dafür gekämpft, wirklich sehr, sehr hart, und das nicht, um in irgendwas modisches reinzupassen (Mode interessiert mich nicht), sondern um ein irgendwie normales Leben führen zu können, mit allem, was dazu gehört, ohne die Angst davor, wieder blöd angeguckt zu werden oder einen verletzenden Spruch hören zu müssen, getuschelt, aber doch laut genug, dass ich ihn hören muss. Nunja, das mit dem normalen Leben hat ja dann doch nicht geklappt, aber das steht in einem anderen Buch. :)))