Hoffnung im Absurden
„Karamasow, sagen Sie,“ rief Kolja, „ist es wahr, was die Religion sagt, daß wir alle von den Toten auferstehen und uns alle wiedersehen werden, alle, auch Iljuschetschka?“
 “Ganz gewiß werden wir auferstehen, ganz gewiß werden wir uns wiedersehen und einander freudig alles erzählen, was war“, antwortete Aljoscha, halb lachend, halb entzückt.

(aus: Dostojewski, "Die Brüder Karamasow")


Diesen, „Die Brüder Karamasow“ abschließenden Dialog, nimmt Albert Camus in „Der Mythos des Sisyphos“ zum Anlass, in Dostojewskis Roman Widerspruch zum Absurden, wie er selbst, Camus, das Absurde definiert, zu entdecken, und zwar nicht wegen des christlichen Charakters des jungen Aljoscha, sondern wegen dessen Verkündung des ewigen, bzw. künftigen Lebens.

Ich wage es meinerseits, diesem zu widersprechen. Mir scheint es so, als wäre Aljoscha, der in der Religion, in Gott und dessen Verheißungen einen Anker und Hafen gefunden hat, in Dostojewskis „Die Brüder Karamasow“ trotz und vor allem wegen seiner Andersartigkeit unter allen den gemarterten, zweifelnden, geplagten Charakteren nicht das mildernde Gegengewicht zum Elend, sondern, ganz im Gegenteil, dessen Unterstreichung und Verstärkung. So im Glauben (auch an das ewige und zukünftige Leben) gefestigt, wie Aljoscha in dem Roman dargestellt wird, ist er eine Unnormalität inmitten der Normalität der Gepfählten und Gefallenen. Der Standardzustand in „Die Brüder Karamasow“ ist maßloses Leid, Zerrissenheit, Hoffnungslosigkeit, darüber schwebt geradezu in anderen Gefilden Aljoscha mit seinem hoffnungsvollen Glauben. Dass er, als Stellvertreter der Unnormalität, am Ende des Romans das letzte Wort hat und dieses letzte Wort die Verkündung der Hoffnung ist, stellt den Höhepunkt seiner Funktion als Unterstreichung und Verstärkung des im Roman geschilderten Normalen dar.

Vielem in Camus Werk „Der Mythos des Sisyphos“ stimme ich zu. Das Leben ist in seinem Ganzen ohne Sinn, führt es doch zu nichts anderem, als geradewegs zum Tod. Alles Schaffen und Raffen, sich drehen und wenden verliert mit dem Moment des Sterbens an Bedeutung, wird zu einem Nichts und jede Bemühung, jedes Streben, jedes dafür erbrachte Opfer mit ihm (denn auch unsere Angehörigen, Freunde, Mitmenschen nehmen nichts mit von dem, was wir ihnen vielleicht gaben, sondern sterben und dann: Ende. Aus. Basta). Absurd erscheint es da, sich jeden Morgen pünktlich aus dem Bett zu quälen um zur Arbeit zu gehen, den bescheuerten Nachbarn freundlich zu grüßen, obwohl man ihn insgeheim „blöder Hund“ nennt, Diät zu halten, niemand umzubringen, der es verdient hätte, keine Bank auszurauben, Treue und Loyalität zu zeigen und keiner Oma das Sparbuch zu klauen. Um sich jedoch des Absurden so bewusst zu sein, wie Camus es beschreibt, muss man entweder vollkommen natürlich reich sein, sich des vollkommenen Ausschöpfens hingeben zu können, oder eben doch morgens aufstehen und seinen Job erledigen, um auch übermorgen noch nicht verhungert oder erfroren das Ende dieser Absurdität erreicht zu haben. Und überhaupt weiß ich nicht, ob es mit erlangtem Bewusstsein der Absurdität des Lebens nun darum gehen kann und soll, mit grenzenloser Maßlosigkeit die noch verbleibende Zeit bis zum endgültigen Tod zu füllen oder Ablehnung und Trotz verspürend, sofort die endgültige Erfahrung mit dem Tod zu machen. Der Wert der gemachten Erfahrungen misst sich übrigens in meinen Augen nicht an der Anzahl, sondern an der Tiefe. Tausende Male fast glücklich gewesen zu sein, wiegt ein einziges Mal von Glück durchgetränkt gewesen zu sein, nicht auf, genauso wenig wie tausende Male ein bisschen traurig gewesen zu sein nicht ein einziges, echtes und umfassendes Elend aufzuwiegen vermag. Nicht an der Oberfläche kratzen, sondern so tief wie möglich fühlen, das ist es, was einer Erfahrung an Wert gibt. Und ein tiefes Fühlen erledigt sich nicht mal eben im Vorbeirennen, sondern bedarf Zeit und dem tatsächlichen Wunsch, zu fühlen, zu wissen, zu begreifen, eben zu erfahren.

Ich glaube nicht an Gott, ich habe keine Hoffnung auf eine Wiedergeburt und ein zukünftiges Leben an Gottes Seite. Und selbst wenn ich versuche, mir diese Vorstellung zum Glauben werden zu lassen, empfinde ich nichts weiter als Zorn bei dem Gedanken, der Mensch solle sich nach unzähligen Jahren voller Trauer, Angst und Ungerechtigkeiten nun an der Pforte des angeblichen Paradieses über das Erlebte und Erlittene freuen, nur um bis in alle Ewigkeit an der Seite jenes einen dahin dümpeln zu dürfen, der dem Menschen das alles eingebrockt hat und der von sich selbst angeblich behauptet, vor Güte und Liebe und Gnade geradezu zu bersten. „Achja?“, kann ich da nur sagen, „vor lauter Güte also sind unzählige Menschen einen grausamen Tod gestorben, haben unglaubliches Elend erlitten und sich noch von weiterer Verzweiflung auffressen lassen, als sie in den dunkelsten Momenten Gott verfluchten? Was kann dieser Gott dann nur für eine Kreatur sein, die so viel verlangt und so viel auflädt, und für alles dieses am Ende noch selige Dankbarkeit erwartet, welche damit belohnt wird, dass man sich Äonen und weitere Äonen in der friedlichen, grinsenden, unendlichen Glückseligkeit langweilen darf, bis man sich nichts anderes wünscht, als eine gut durchdachte Apokalypse?“

Nein, ich glaube nicht an Gott und an glückselige Auferstehung. Dennoch glaube ich an die Kraft von Hoffnung und Illusion. Was nutzt all das Bewusstsein über das Absurde des Lebens, wenn es nicht auch dennoch die Hoffnung gibt? Der Mensch hofft immer und ständig. Für sich selbst, für seine Kinder, für alle, die er liebt und natürlich auch, hier anderer Gestalt, für die, die er hasst. Heute kann ich nicht ans Meer, aber morgen, so hoffe ich, werde ich der Brandung lauschen, auch wenn ich heute noch nicht weiß, ob es ein Morgen geben wird. Das Leben, so absurd es auch tatsächlich ist, wird bunter und fröhlicher durch Hoffnungen und Illusionen. Und das sich Begeben in die totale Absurdität ist doch auch nur eine Hoffnung darauf, damit das Bewusstsein über die Vergänglichkeit des Lebens, des Menschen, der Wünsche und Träume auf Armlänge zu halten und mit dieser gut durchdachten Nüchternheit dennoch, mit eben diesem Wissen, einfach immer weitermachen zu können, egal, ob es sich lohnt oder nicht, egal, ob Staub aus Staub kommt und zu genau diesem wieder wird.

Woher, wohin, warum, wozu - selbst diese Art von (existenziellen) Fragen stellt sich der Mensch mit der Hoffnung, eine Antwort finden zu können. Absurd, oder auch nicht, die Hoffnung ist und bleibt menschlich.




bildermacher am 31.Okt 09  |  Permalink
Camus spricht sich nicht gegen die Hoffnung per se aus, denn Hoffnung an sich ist ja nichts schlechtes und essentieller Bestandteil des Lebens. In schlechten Zeiten auf bessere Zeiten zu hoffen, ist durchaus vernünftig.

Wogegen sich Camus bzw. der Existenzialismus verwehrt, ist die Hoffnung über die Grenzen der physischen Existenz zu projizieren, also z.B. etwas nicht zu leben, in der Hoffnung es werde einem im "Jenseits" vergolten.

idiotin am 01.Nov 09  |  Permalink
Ich weiß. Ich wollte eigentlich nur auf seine Bemerkung über Dostojewski eingehen... dann sprang der Rest halt einfach nach. :)

Ich glaube, dass die wenigsten tatsächlich an ein Jenseits glauben. Sie würden es gerne glauben, ganz sicher sein darin, aber sie sind es nicht. Sie wünschen sich, es wäre so, damit sie vielleicht be- oder entlohnt werden, oder eine neue Chance bekommen, aber sie wissen im Innersten, dass das nicht geschehen wird. Und dennoch leben sie so, als würde sie das Jüngste Gericht erwarten, am Ende ihres Lebens, und als würden sie zur Verantwortung gezogen werden, von jemanden anderem, als von sich selbst allein. Gewappnet sein für das Unmögliche, für alle Fälle. Der Gedanke, dass am Ende nichts weiter als ein Gedenkstein - wenn überhaupt - und Madenfutter übrig bleiben wird, ist aber auch nicht wirklich schön. Und doch ist es so, dass ein jeder sich jetzt, in diesem Leben, selbst zu belohnen oder zu bestrafen hat, nach seinen eigenen Maßstäben und Regeln.