Denk ich an
... Stuttgart, wo ein entfernter Verwandter neu seine Zelte aufschlagen wird, denk ich an den Canstatter Wasen, an die Wilhelma, an die "Alte Mühle" in Ober(oder war es Unter?)türkheim, an die Rockfabrik in Luwigsburg, an diverse Vorortdiscos mit großartigen Namen für ihre schäbigen Inneneinrichtungen und ihr teilweise noch schäbigeres Publikum, an unzählige S-Bahn-Fahrten zu jeder Tages- und Nachtzeit und an die erwischten Schwarzfahrten, für die ich mir ein Jahresticket quer durchs gesamte Netz hätte kaufen können.

Ich denke an Freunde und Freundinnen, von denen ich heute niemanden mehr kenne und vermutlich niemals wirklich kannte. An die freche Tochter eines bekannten Konditors, deren Unterarme chronisch verbrannt waren von den heißen Kuchenblechen und von deren Bruder ich genauso gekostet habe, wie von den Nussecken am Adventsstand in der Fußgängerzone. Ich denke an den Burschen, mit dem in einem Bett geschlafen habe, ohne dass wir anderes taten als erzählen und schlafen - einer der wenigen, an dessen kompletten Namen ich mich noch mühelos erinnere.

An den alten Opamantel denke ich, den ich in meiner Hoch-Punk-Phase getragen habe. Grau, abgewetzt, viel zu groß, hing er mir von den Schultern bis weit über die Waden. An die grünen Haarsträhne, eingefärbt mit Ostereierfarbe, die sich länger hielt als alles, was man mit Haarfarbeprodukten hinbekommen könnte. Ich denke an Tequila und Gras und an eine fremde Wohnung, deren Lage ich niemals herausbekommen habe, nachher, und die ich möglichst schnell zu vergessen gewünscht habe.

Ich denke an irrsinnige Höhenflüge und abgrundtiefe Stürze, an Drugs, Sex, Alcohol, Tobacco and Rock and Roll. An höllische Parties und ebenso höllische Einsamkeiten. Daran, wie ich mich vor den allerdunkelsten Ecken bewahrt habe und wie ich mich des nachts eingesammelt und nach Hause gebracht habe, um mich ein paar Nächte später irgendwo zu vergessen. Wie ich mich an der Hand genommen und mir den Weg gezeigt habe, wenn ich nicht mehr weiterwusste. Wie ich mir das Leben schönredete, wenn ich mich vom Überdruss erschlagen fühlte und wie ich für mich in der Nacht ein Licht entzündete, wenn es allzu dunkel um mich war. Ich war immer für mich da, wenn ich mich brauchte, weil nichts mehr ging und nirgendwo Sinn zu finden war. Sinn. Oder ein Zaun. Eine Mauer. Ein Baum, ein Schild, ein Haus, Burg, Schloss, Festung, ein Leuchtturm. Irgendwas, das ich so verzweifelt suchte, weil es doch irgendwo sein musste. Irgendwo da draußen, denn in mir drin konnte ich es nicht finden, in mir drin war nur ich und ich war kein Zaun, keine Mauer, kein Baum, kein Schild, kein Haus, Burg, Schloss, Festung, Leuchtturm. Ich war nur die leise Stimme in meinem Kopf, die mir zu- oder abredete, manchmal schwieg, manchmal brüllte.

Denk ich an Stuttgart, denk ich an Taumel. Schleudergang. Beben. Leben. Nicht immer schön, nicht immer gut, aber immer Vollgas. Es gab nichts und niemanden, außer mir selbst. Und ich habe mich nicht einmal besonders gern gehabt. Nicht wirklich gemocht. Aber losgelassen habe ich mich dennoch nicht. Niemals.




schmelzpunkt am 05.Okt 09  |  Permalink
Denk ich an Stuttgart, fallen mir sämtliche Stadtteile, Vororte und Ortsschilder, Straßenbeleuchtungen, Ampeln und Kreuzungen, letztlich auch meine Uhr am Armaturenbrett ein. Nach einem ABBA-Revival-Konzert in der Schleyer-Halle hatte ich mich (leicht angetrunken) nächtlich, auf dem Weg zum Hotel, derart verfahren, dass ich noch heute über meine Blödheit lachen muss. Es hatte da jemand auf mich gewartet des Nachts. Im Bett. Bei Kerzenschein. Irgendwann war es ihr wohl zu doof geworden. :-)))

idiotin am 05.Okt 09  |  Permalink
Zu doof geworden? Sie hatte sich inzwischen mit den Kerzen vergnügt? :)

schmelzpunkt am 05.Okt 09  |  Permalink
Brennende Kerzen zum waghalsigen Vergnügen sah ich bisher nur im "Salambo". Als Vergnügen empfand ich das auch für die Darstellerin nicht. :-)

mephistobs am 06.Okt 09  |  Permalink
Wenn du dich damals losgelassen hättest, hättest du heute vermutlich nichts mehr, was du halten könntest.

Meine Erinnerungen an Stuttgart sind nur flüchtiger Art. Das Shootout "Stuttgart" vs. "Nürnberg" als Fleckchen Erde für den Einstieg ins Berufleben verlor Stuttgart.

idiotin am 07.Okt 09  |  Permalink
Wer weiß, wozu es gut war... in Stuttgart ist das Gras ja auch nicht unbedingt grüner (geworden).

dhonau am 06.Okt 09  |  Permalink
diesen text ...
mag ich besonders.
zu stuttgart fällt mir biographisch zweierlei ein: einmal eine unseelige gottseidank nur kurz andauernde etappe in leonberg (in einem albert schweitzer gymnasium) und ein fußball-länderspiel schland gg die göttermannschaft brasilien im damalig so heißenden neckarstadion, das ich mit meinem vater anschauen durfte. prompt verlor ich die migräneartigen kopfschmerzen, die mich monatelang gequält hatten. sehr lange hatte ich mich niemndem anvertraut, weil ich dachte, meine ende sei gekommen. dachte ich wirklich. ich sagte nach dem spiel zu meinem vater, daß ich schon seit wochen schmerz im kopf habe. er meinte, hoffentlich ist das keine migräne. ich: ist das tödlich? – er: nein.
von da an waren die schmerzen wie weggeblasen.
in jüngerer zeit hab ich in stuttgart einmal das hegel-museum besucht. wegen hegel hatte ich mich indirekt zum philosophiestudium (außerdem mathematik) entschlossen. in der schulbibliothek (in einem hölderlin gymnasium) war ich auf ein buch von adorno (den ich nicht kannte) gestoßen ("drei studien zu hegel"), das ich las, ohne ein wort zu verstehen, naturgemäß, denn es bezog sich auf hegel, den ich ebensowenig kannte. aber ich las es und berauschte mich an seiner sprache und war fasziniert von dem umstand, daß ich nichts, nicht einmal ein fetzlein davon verstand. noch heute bewege ich mich sehr gern in texten, die mich ganz fordern.

idiotin am 07.Okt 09  |  Permalink
Im Neckarstadion war ich auch einmal. Nürnberg war Gast, glaube ich, und verlor dramatisch. Das Spiel war mir einerlei, aber die Stimmung dort war wundervoll. Ich liebte die Welle, die bei jedem Tor durch das Stadion wanderte.

Ich kenne Hegel nicht und Adorno auch nicht (Schande, ja, ich weiß). Ich habe mich jedoch einmal an "Das Sein und das Nichts" versucht, weil ich den Titel großartig fand und mir "Geschlossene Gesellschaft" außerordentlich gut gefallen hatte. Ich gab aber rasch auf, konnte dem Buch nicht folgen, konnte nicht begreifen. Vielleicht später irgendwann einmal werde ich es noch einmal versuchen. In anderer Grundstimmung und mit anderen Gedankengängen im eigenen Kopf.

Dass sie Philosophie studiert haben, wusste ich, ohne es zu wissen. :)

schneck08 am 09.Okt 09  |  Permalink
Denk' ich an Stuttgart, fallen mir viele Idioten ein...
;-)

idiotin am 09.Okt 09  |  Permalink
Hehe, dann haben Sie wohl in denselben Kreisen verkehrt, wie ich. :)