Mittwoch, 5. August 2009
Frank Schätzing: Der Schwarm
Frank Schätzing: Der SchwarmMary-Ann scheuchte sie aus dem Küchenzelt, also rotteten sie sich draußen zusammen, dick eingepackt gegen die Kälte, gegen die Schlitten gelehnt, und eine junge Frau begann eine Inuit-Geschichte zu erzählen von der Sorte, die immer wieder und wieder ein bisschen anders erzählt werden. Anawak erinnerte sich, wie sich solche Geschichten mitunter über Tage hingezogen hatten. Die Inuit waren nicht der Meinung, dass man alles in einem Schwung zu Ende erzählen müsse. Die Tage auf dem Eis waren lang. Geschichten waren lang. Warum sie nicht verteilen?
(aus Frank Schätzing: Der Schwarm)



Eines vorweg: Es steht mir nicht zu, ein Buch zu bewerten, ihm einen Stempel aufzudrücken, es "gut" oder "schlecht" zu nennen. Ich kann nur meine persönliche Meinung, meine persönlichen Gedanken dazu äußern. Ein Buch ist ein Buch ist ein Buch, sein Wert steigt oder fällt nicht mit meinem persönlichen Ge- oder Missfallen.

Wer dieses Buch noch im Schrank stehen hat um es zu lesen oder gerade mitten drin ist, irgendwo im Abyssus treibt oder mit einem dumpfen Bauchgefühl an der Reling eines Schiffes steht, sollte es hier gut sein lassen und nicht weiterlesen. Allzu leicht schleichen sich die Gedanken anderer in die eigenen und tun dort so, als wären sie keine frisch erworbenen Vorurteile, sondern gehörten zur eigenen Meinung. Als ich gerade auf den ersten Seiten war, stieß ich im Web auf zahlreiche Seiten, welche dieses Buch als gähnend langweilig bezeichneten, als überaus uninteressantes und vollkommen verqueres Gedankengut, dem zu folgen reine Zeitverschwendung wäre. Ich habe mich dabei erwischt, die nächsten zwanzig, dreißig Seiten eher lustlos und desinteressiert zu überfliegen, was in der Tat reine Zeitverschwendung war und unfair dem Buch gegenüber, welches mir gegenüber keinerlei Vorurteile hegte. (Man beschwert sich mit einem ausgewachsenen Stockschnupfen nicht beim Chefkoch eines exquisiten Restaurants darüber, dass man den Geschmack der Speisen nicht genießen konnte.)


Zurück zum Buch: Recht langsam geht es los, beinahe gemütlich. Ein toter Fischer, daran ist nichts außergewöhnliches, ein paar Würmer, deren Vernichtung sich ein Ölbohrunternehmen legitimieren lassen will. Frank Schätzing schlendert mit dem Leser gemeinsam auf das Zentrum der Handlung zu, ihm hier und da Feldstecher oder Mikroskop reichend, zum Beispiel um die Würmer näher zu betrachten, die irgendwie so ganz anders sind, als Würmer sein sollten, oder um nach Walen Ausschau zu halten, die erst gar nicht auftauchen und von denen man sich später wünscht, sie wären niemals erschienen.

Während man mit gerunzelten Augenbrauen das unglaublich verquere Tun der Meeresbewohner verfolgt, taucht man immer wieder tief hinab in die Meere, darf im begrenzten Lichtkegel, angesichts der vollkommen Dunkelheit lächerlich anmutenden Unterwasserstrahler Schelfkanten in Augenschein nehmen, erfährt, was es mit dem Nordseeöl und den Bohrinseln auf sich hat, besucht Forschungsschiffe und schaut Wissenschaftlern in deren hochtechnisierten Laboratorien über die Schulter, und plötzlich leuchtet es ein, warum Forscher ihr Wissen so oft für sich behalten, niemand dreht sich gerne selber den Geldhahn zu. Schließlich fragt man sich, ob das tatsächlich sein kann, dass die so wissensdurstige Welt mehr über das All weiß als über das, was sich in der dunkelsten Dunkelheit der eigenen Meere abspielt.

Und gerade wenn man staunt und sich wundert und darauf brennt, mehr zu erfahren über das Meer und seine Bewohner, wenn man danach fiebert, noch einmal hinunter tauchen zu dürfen um zu sehen und zu entdecken, verwandeln sich die Ozeane in tödliche Feinde, die sich erheben und menschliches Leben vernichten, gezielt, geplant, mit voller Absicht.

Aus dem Nebeneinander der Schauplätze wird in plötzlichem rasanten Tempo ein Mit- und Durcheinander. Der Leser steckt mittendrin, wendet den Kopf mal hierhin, mal dorthin, entwickelt eigene Theorien und ist manches Mal versucht, dem einen oder anderen vor das Schienbein zu treten, mindestens. Und dann, wenn man meint, sich heillos zu verheddern in einem europäischen Tsunami, plötzlich sinkenden Schiffen, verrückt gewordenen Walen, Hummern und Krabben, gefräßigen Würmern, ratlosen Wissenschaftlern und machtgeilen Politikern, wechselt der Schauplatz, reisst es einen heraus aus dem Tohuwabohu, das die bisher gekannte Weltordnung in Frage stellt und welches niemand sich erklären kann – der Leser übrigens auch nicht, weshalb er sich gerne entführen lässt, in die Ruhe und Stille und Regungslosigkeit der Inuit, bevor er erfährt, dass auch diese, wie wohl alle Indianervölker, ihres eigenen Lebens beraubt und in ein fremdes verpflanzt wurden.

Für das Finale wird der Leser zusammen mit den vertrauten Charakteren, welche noch unter den Lebenden weilen, auf einer schwimmenden Plattform inmitten der grönländischen See ausgesetzt. Die anstehende Vernichtung der Menschheit schweißt Nationen zusammen, vordergründig zumindest, und so wird Tag und Nacht daran gearbeitet, den Feind zu erkennen, denn nur was man kennt, kann man lieben, hassen oder sich ihm unterwerfen. Die Unwichtigkeit, die Nichtigkeit, die völlige Überflüssigkeit der Menschheit für die fremde Intelligenz, deren überwiegende Unsichtbarkeit, gepaart mit Emotionslosigkeit, diese so überaus tödlich macht, vernichtet das Weltbild aller Anwesenden, den Leser eingeschlossen, in kurzen, knappen Streichen. Das scheinbar edle Volk, die angeblich gottgewollte Rasse, der die Welt gehört und der das Schicksal aller Lebensformen auf dem Planten Erde in die Hände gelegt wurde, sieht sich entthront, entmachtet und für nicht erhaltenswert erklärt. Hilflos sieht sich der Mensch seiner Daseinsberechtigung beraubt, sucht vergeblich nach Gründen, warum die Welt sich ohne ihn nicht weiter zu drehen vermag und klammert sich noch immer an seiner angeblichen Überlegenheit, seiner Wichtigkeit, seiner gottgebenen Aufgabe fest.

„Nein, der Mensch verrät die Sache der Welt, indem er ein Missverhältnis schafft zwischen den Lebensformen und ihrer Bedeutung. Er ist die einzige Spezies, die das tut. Wir werten. Es gibt böse Tiere, wichtige Tiere, nützliche Tiere. Wir beurteilen die Natur nach dem, was wir sehen, aber wir sehen nur einen winzigen Ausschnitt, dem wir übersteigerte Bedeutung beimessen... „
(aus Frank Schätzing: Der Schwarm)



Am Ende wird gestorben, reichlich. Ein Inferno aus Wasser und Feuer, darin dicht nebeneinander Nüchternheit und rasender Wahnsinn. Ein verzweifelter, letzter Versuch, den überaus intelligenten Feind, der nicht nach menschlichen Maßstäben bewertet, der sich nicht in Details verliert, sondern sich dem Großen und Ganzen verschrieben hat, von der Wichtigkeit und Nützlichkeit des Menschen zu überzeugen. Ein Gnadengesuch, gerichtet an eine Lebensform, die nicht nach Sympathie oder Antipathie entscheidet und weder Liebe noch Hass kennt.

Ein wenig nehme ich es Frank Schätzing übel, dass er mir die Charaktere seines Buches vorstellt, sie mir nach und nach ans Herz wachsen lässt, nur um sie im Verlauf der Handlung vor meinen Augen sterben zu lassen.
Ein wenig nehme ich ihm auch den tiefen Griff in die Klischeekiste übel. Die USA als alles an sich reissende Macht, vertreten durch eine wahnsinnige, über Leichen gehende, morallose Manipulatorin. Vanderbilt als der einfältige Agent, Sigur Johanson als der alternde Casanova, Anawak als der heimatlose Inuit, dessen Volk, seiner Rechte beraubt, hin- und hergesiedelt wurde, bis es auch den letzten Halt verloren hatte, Jack Greywolf als der bockige Rebell mit dem weichen Herz, um nur ein paar Beispiele zu erwähnen.
Alles dieses ändert jedoch nichts an der Botschaft des Buches, welche sich von mir in ein einziges Wort pressen lassen würde, wollte ich den Versuch wagen, 987 Seiten auf wenige Buchstaben zu reduzieren – was ich jedoch nicht zu tun gedenke, denn sie sind lesenswert, diese 987 Seiten und wenn man es vermag, sich darauf einzulassen, frei von eigener Wertung und allem, was man bisher für wahr und möglich gehalten hat, wird man den eigenen Blickwinkel mehr als einmal verlassen und ein fühlbares Unbehagen wird zu Fragen führen, von denen man bisher nichts einmal wusste, dass sie in dieser Form überhaupt gestellt werden können.



Bernhard Schlink: Die Heimkehr
Bernhard Schlink: Die HeimkehrJedesmal kam es mir wieder wie ein Wunder vor, daß die Straße des Lichts, die die Sonne aufs Wasser wirft, ruhig und gleißend in der Mitte und an den Rändern in tanzende Splitter zerspringend, mit dem Schiff mitwanderte. Ich bin sicher, daß schon der Großvater mir erklärt hat, daß das seine optische Richtigkeit hat. Aber noch heute kommt es mir jedesmal wie ein Wunder vor. Die Straße des Lichts beginnt da, wo ich gerade bin.
(aus Bernhard Schlink: Die Heimkehr)


Wer aufgrund des Titels dieses Buches glaubt, dass es, wie bereits in "Bis ich dich finde", um eine Suche geht, hat Recht. Auch hier gibt es einen verlassenen Sohn und einen verschollenen Vater, aber die Hauptfigur des Buches, der Sohn, sucht nicht nach seinem Dad, sondern nach dem Ende eines Romans.

Der Leser begegnet Peter Debauer zum ersten Mal bei dem jährlichen Sommerferienbesuch der Großeltern in der Schweiz. Eine sanfte, stille und warm umarmende Idylle, die im deutlichen Gegensatz zu der disziplinierten und distanzierten Kühle des deutschen Zuhause steht, in dem es nur Peter und seine Mutter gibt.

In der Erinnerung sind die Ferien eine Zeit des ruhigen, tiefen Ein- und Ausatmens. Sie sind die Verheißung eines Lebens des Gleichmaßes. Eines Lebens der Wiederholung, in dem das Gleiche immer wieder und nur ein kleines bißchen anders passiert. Eines Lebens am Wasser, dessen Wellen gleichmäßig anrollen, eine um die andere und doch keine ganz wie die letzte.
(aus Bernhard Schlink: Die Heimkehr)


Durch die Großeltern, welche Peter die Rückseiten zu korrigierender Romanmanuskripte als Mal- und Schmierpapier überlassen, stößt Peter auf den Heimkehrer-Roman: Der Soldat Karl überlebt die Grausamkeiten des Krieges und eine mehr als einmal aussichtslose Flucht. Er findet tatsächlich nach Hause, doch als seine Frau ihm die Türe öffnet, stehen zwei Kinder und ein fremder Mann neben ihr. Hier endet die Geschichte, die weitererzählenden Papierbögen fehlen.

Peter wächst heran, schlägt sich durch ein recht normales und bürgerliches Leben. Er kümmert sich, ohne dazu verpflichtet zu sein, um den Sohn einer ehemaligen Freundin, besucht regelmäßig seine noch immer kühle und distanzierte Mutter, geht seiner ihn nicht wirklich erfüllenden Arbeit in einem Verlag nach und ist oberflächlich zufrieden. Und dann, eines Tages, in einer fremden Stadt, steht er urplötzlich vor dem Haus, welches der Soldat in dem Heimkehrerroman beschrieben hat und Peter will endlich das Ende der Geschichte wissen. Er klingelt, ihm wird geöffnet, er stellt Nachforschungen über die Menschen an, die während Ende des Krieges dort gelebt haben und findet seine große Liebe, welche er kurz darauf kampflos an den heimkehrenden Ehemann verliert.

Zurück in seinem alten Leben, will sich die Zufriedenheit nicht wieder einstellen, nicht einmal oberflächlich. Peter konzentriert sich auf die Suche nach dem Autor des Romans und dem Ende der Geschichte, welche sehr stark an die Irrfahrt des Odysseus erinnert. Weit zurück in die deutsche Geschichte wird Peter dabei geführt und nimmt den Leser mit in die Schrecken des Krieges, setzt ihn dabei aber nur mäßigen Gefahren aus, wofür der eine oder andere sicher dankbar sein wird. Immer stärker kristallisiert sich heraus, dass der Autor des Heimkehrer-Romans ein Mann ist, der sehr gekonnt seine Spuren verwischte. Verschiedene Berufe und Identitäten gestalten die Suche nach ihm zu Peters eigener Odyssee und am Ende stellt sich heraus, dass der Verfasser des Romans, Professor John de Baur, Peters Vater ist, welcher auf eine sehr eigenwillige Weise mit den Schrecken der Vergangenheit umgeht und eine noch eigenwilligere Sichtweise von Gut und Böse hat.


Ich fand Kapitel über die Rolle von Wahrheit und Lüge, Aufklärung und Ideologie im Recht. Oft genug seien Wahrheiten Lügen und Lügen Wahrheiten und schaffe Aufklärung mit der Zerschlagung des einen ideologischen Weltbilds nur Raum für ein anderes. Das heiße nicht, daß es Wahrheit und Lüge nicht gibt. Es heiße, daß wir die Wahrheit und Lüge machen und die Entscheidung, was wahr und was falsch ist, persönlich zu verantworten haben. Auch die Entscheidung, was gut und was böse ist und ob das Böse frei vagabundieren darf oder in den Dienst des Guten treten muß, müßten wir persönlich verantworten. Damit sei mehr und anderes gemeint, als daß wir sie redlich treffen. Der Forderung nach intellektueller Redlichkeit gilt die Verachtung de Baurs. Denn Redlichkeit sie bei einer Entscheidung, die keine Folgen hat, müßig und bei einer Entscheidung, die Folgen hat, zuwenig. Die Entscheidung, Böses im Dienste des Guten einzusetzen, verlange die Bereitschaft, sich selbst dem Bösen auszusetzen.
(aus Bernhard Schlink: Die Heimkehr)



Mich hat vor allem der gekonnte Wechsel zwischen klarer und nüchterner Sprache und wunderschön malerischer Bildersprache fasziniert. Texte, die so komplex sind, dass ich sie mehrmals lesen musste, um sie tatsächlich zu begreifen, oder zumindest, ihren Ansatz zu verstehen, stehen dicht neben solchen, die ich mit einem tiefen Atemzug einatmete.

Die Einfachheit der Hauptfigur macht diese absolut glaubwürdig. Peter Debauer ist kein Held, kein Übermensch, keiner, der alles richtig und gut macht, sondern „einer von uns“. Dass er deshalb langweilig wirkt, verhindert Schlink, welcher auch an den seichten Stellen noch tief erzählt.

Ich muss zugeben, dass mich die eigentliche Geschichte diesen Buches eher weniger interessierte. Dass ich trotzdem bis zur letzten Seite las, ist ein großes Kompliment an Bernhard Schlinks Schreibkunst.



John Irving: Bis ich dich finde
John Irving: Bis ich dich findeJack ist vier Jahre alt, als er, im Gepäck seiner Mutter Alice, seinem Vater William um die halbe Nordsee herum folgt, um diesen an seine Pflicht und Schuldigkeit zu erinnern. William, der sich aus dem Staub gemacht hat, noch bevor Jack das Licht der Welt erblickte, scheint Alice immer eine Nasenlänge voraus zu sein und so bleiben Alice, welche sich notdürftig ihren Lebensunterhalt als Tätowiererin verdient, und der kleine Jack niemals lange an einem Ort, sondern folgen William unbeirrbar, egal, wohin dieser sich auch wendet.

Doch, wo auch immer sie ankommen, William ist schon fort. Überall ließ er gebrochene Mädchen- und Frauenherzen zurück, denn William ist ein Herzensbrecher, einer von der Sorte, der seine Finger, und andere Körperteile, nur allzu gerne in weibliche Honigtöpfe versenkt, bevor er sich aufmacht, die nächste, noch schönere, noch grössere, noch schwierigere Kirchenorgel zu spielen, denn William ist Musiker, genauer gesagt Organist. William liebt die Musik und deshalb lässt er sich in jeder Stadt, die er besuchte und in der er spielte - und nebenbei junge Mädchen verführte -, einige Noten auf seinen Körper tätowieren. Man munkelt bereits, dass er kaum noch eine freie Hautfläche sein eigen nennen könne, so viele gestochene Noten habe er bereits gesammelt.

Alice forscht, fragt und sucht unermüdlich auf Williams Spuren. Sie spricht mit jedem, der auf irgendeine Weise mit William zu tun hatte, natürlich auch mit den Tätowierern der Stadt und wenn sie mit diesen erst einmal über William gesprochen hat, darf sie in den meisten Fällen dort als Tätowiererin anfangen und sich das nötige Geld für die mühselige Reise verdienen. So wird sie im Laufe der Zeit zu „Daughter Alice“ und verschafft sich einen ausgezeichneten Ruf in den Kreisen der gestochenen Körperkunst. Sie arbeitet hart und wenn sie nicht arbeitet, sammelt sie Informationen über William. „Nicht vor Jack!“, sagt sie oft wenn über Dinge gesprochen werden muss, welche sich nicht für die Ohren eines Vierjährigen eignen.

Eines Tages findet die Odyssee von Alice und Jack in Amsterdam ein abruptes Ende. Es heißt, William hätte sich nach Australien aufgemacht und nach Australien will Alice ihm nicht folgen, nein, nicht nach Australien. Alice gibt auf, nach all den Strapazen – für einen Tag hat sie sich sogar unter die Amsterdamer Prostituierten begeben – gibt sie auf. Sie und Jack kehren zurück nach Toronto. Die Suche nach William hat ein Ende.

Als Jack fünf Jahre alt ist, schickt Alice ihn auf eine konfessionelle Mädchenschule. Anscheinend glaubt sie, Jack trage die "schreckliche Veranlagung" seines Vaters in sich und der Besuch einer Mädchenschule könne an Jack retten, was zu retten ist. So kommt es, dass er Emma kennenlernt, eine Zwölfjährige, die "stark auf die Achtzehn" zugeht. Emma nimmt sich des kleinen Jack an, was bedeutet, dass sie ihn nicht nur ständig in der Schule quält, sondern auch, dass sie besonderes Augenmerk auf die Entwicklung seines Penis hat. Praktischerweise hilft sie Jack nachmittags bei den Hausaufgaben, vornehmlich Mathematik, denn Jack kann absolut nicht rechnen, und so ergibt sich für Emma sehr oft die Gelegenheit, Jacks Penis zu begutachten und in der Hand zu halten, darauf wartend, dass Jacks Geschlecht aus seinen Träumen erwacht und neue, andere Träume träumt.

Emma wird zu einem festen Bestandteil in Jacks Leben. Die Art der Beziehung ist eine seltsame, aber keine schlechte, sondern eine, die sowohl Jack als auch Emma auf verschiedene Weisen gut tut und beiden einen gewissen Halt vermittelt. Alice hat sich zunehmend von Jack abgewandt, so, als hätte sie, nun, da William verloren scheint, auch kein Interesse mehr an dem Kind. Jack wächst heran und entwickelt eine Vorliebe für ältere Frauen, welche passenderweise scheinbar auch eine Vorliebe für den jungen Jack ihr eigen nennen.

Als Jack alt genug ist, verlässt er sowohl die Mädchenschule als auch Toronto. Die Verbindung zu Emma reisst niemals ab und als die beiden erwachsen sind, nehmen sie einander wieder an die Hand. Emma hält Jacks Penis, sehr gerne im Kino übrigens. Jack und Emma leben miteinander und lieben einander ohne ein wirkliches Paar zu sein. Sie berühren einander, schlafen in demselben Bett, aber schlafen niemals miteinander. Fernab eines „normalen“ Leben und Daseins, erobern sie jeder für sich Los Angeles: Jack wird ein erfolgreicher Schauspieler, Emma eine gefeierte Autorin – und dann stirbt Emma und nichts ist mehr, wie es gewesen war, oder zumindest den Anschein hatte, zu sein. Jack verliert seinen Halt und auf der Suche nach seinen Wurzeln, nach seiner Wahrheit, bereist er nochmals die Nordsee, diesmal auf den Spuren von Alice und dem kleinen Jack, der er selber einmal war – und alles ist ganz anders, vollkommen anders, als er es in Erinnerung hat. Sind seine Erinnerungen tatsächlich seine eigenen oder sind es die von Alice, die dafür sorgte, dass er die Dinge genau aus dieser, nämlich ihrer Sicht betrachtet?

Und dann ist da noch William, Jacks nichtgefundener Vater....


Ein absolut verqueres Buch! Anstrengend die ersten Wirrungen und Irrungen, amüsant und aufregend die Mitte, fesselnd und durchdringend das Ende. Es sind die teilweise überzeichneten Figuren, die dieses 1140 Seiten starke Buch trotz seiner teilweise sehr anstrengenden Geschichte zu tragen vermögen. Skurril, schrill und überdreht auf der einen Seite, hält es auch ruhige, nachdenkliche Momente bereit.

Meine Botschaft des Buches? Suche und finde die Wahrheit – deine eigene!



Walter Moers: Die Stadt der träumenden Bücher
Walter Moers: Die Stadt Der Träumenden BücherDanzelot: "Eins noch, Junge, was du dir merken mußt: Es kommt nicht drauf an, wie eine Geschichte anfängt. Auch nicht darauf, wie sie aufhört."
Ich: "Sondern?"
Danzelot: "Sondern auf das, was dazwischen passiert."
(Zeitlebens hat er keine solche Plattheiten von sich gegeben. Verabschiedete sich nun sein Verstand?)
(aus: Walter Moers, Die Stadt Der Träumenden Bücher)


Es lag wirklich nicht in meiner Absicht, erneut an ein Buch zu geraten, in dem gesucht wird, es passierte einfach so. Als ich das Buch entdeckte und mitnahm, geschah dieses nicht, weil ich dachte "Ah, endlich mal keine Suche" - worüber das Buch erzählt, dafür interessierte ich mich nur am Rande; ich griff nach dem Buch wegen des fantastischen Bildes auf dem Cover, schlug es auf und fand es im Inneren übersät mit unzähligen, wunderschönen und -samen, märchenhaften Illustrationen. Erst zu Hause entdeckte ich, dass ich ein Buch von Walter Moers in den Händen hielt, jener welcher auch für "Käpt´n Blaubär" und "Das kleine Arschloch" verantwortlich ist. Na toll, dachte ich resigniert, ein kindisch albernes Klamaukbuch...

... und genau das befindet sich in den Seiten: ein kindisch alberner Klamauk. Eine vor feiner Ironie, heiterem Spott und herrlichen Albernheiten strotzende Geschichte, in der Ich-Form erzählt von einem Lindwurm namens Hildegunst von Mythenmetz, der die Lindwurmfest verlässt um nach dem Verfasser eines Manuskriptes zu suchen, welches dem wohl größten Literaten aller Zeiten entsprungen sein muss. Am Sterbebett seines Dichtpaten Danzelot (der Dialog zwischen dem Sterbenden und Hildegunst ist eine köstliche Mischung aus schwarzem Humor und kleinen glitzernden Gedankenperlen) versprach Hildegunst, den unbekannten Autor des Manuskriptes ausfindig zu machen, denn so einen begnadeten Schreiber findet man in ganz Zamonien ganz sicher nicht noch einmal.

Und so macht sich Hildegunst, welcher nie zuvor aus der Lindwurmfeste heraus gekommen ist, auf den Weg nach Buchhaim, der Stadt der Träumenden Bücher.

Logisch, dass ein junger, überaus naiver Lindwurm nicht einfach losgeht, den gesuchten Autor findet, ihm die Hand schüttelt und - zack, ist die Geschichte zuende, zumal die Geschichte in Buchhaim spielt, jener Stadt, welche aus den Nähten zu platzen droht von Büchern aus allen bisherigen Zeiten und in der es unterirdische Labyrinthe gibt und Bücherjäger und Schrecksen und Haifischmaden und Hundlinge und Trompaunenkonzerte und Glühkaffee und Bienenbrot, eine Stadt überdies, welche von Legenden und Mythen und unglaublichen Geschichten geradezu überquillt. Logisch auch, dass Hildegunst, der junge Lindwurm, aufs gemeinste gelinkt wird und in den Katakomben landet, in denen es vor zwielichten Gestalten, mordlustigen Ungeheuern, verrottenden antiken Bücher und tödlichen Fallen nur so wimmelt - aber das ist noch nicht alles, denn der Legende nach soll in den tiefsten Tiefen der Katakomben der Schattenkönig leben, das schrecklichste, unheilvollste und tödliche Wesen überhaupt.

Und das gehört alles wirklich Ihnen?", fragte ich blöde. Der Gedanke, dass so viele Bücher einer einzigen Person gehören konnten, kam mir absurd vor.
"Ja. Ich habe es geerbt."
"Das ist das Erbe der Smeiks? Das Erbe Ihrer - Sie müssen verzeihen, es sind Ihre eigenen Worte - verkommenen Familie? Sie muß doch erstaunlich kultiviert gewesen sein."
"Oh, glauben Sie bitte nicht, dass Kultiviertheit und Verkommenheit sich gegenseitig ausschließen", seufzte Smeik. Er nahm eines der Bücher aus dem Regal und betrachtete es versonnen.
(aus: Walter Moers, Die Stadt Der Träumenden Bücher)



Dass der junge Lindwurm mehr als einmal in unangenehme Schwierigkeiten gerät, ist von Anfang an klar. Dass er auf unglaubliche, unvorstellbare Geschöpfe trifft, während er immer tiefer in das Labyrinth gerät auch. Und dass er am Ende auf den Schattenkönig trifft... ja, auch das ist klar. Dass der Schattenkönig ein unglaubliches, düsteres Geheimnis mit sich trägt, nun, das war zu erwarten.


Es gibt viele Schatten im diffusen Licht der Katakomben von Buchhaim. Schatten von lebenden Kreaturen, Schatten von toten Dingen, Schatten von kriechendem, fliegendem, krabbelndem Getier, das rastlos über die Tunneldecken und Bücherregale tanzt und schon manchen in Angst und Schrecken versetzt oder in den Wahnsinn getrieben hat. Eines nicht fernen Tages sei diese körperlose Gemeinde der anarchistischen Zustände überdrüssig geworden und habe sich ein Oberhaupt gewählt, berichtet die Legende. Schatten auf Schatten hätten sie damals übereinander geworfen, eine Nuance Dunkelheit auf die andere, Umriß auf Umriß gestapelt - bis aus allem zusammen eine halb lebendige, halb tote, eine halb feste, halb körperlose, eine halb sichtbare, halb unsichtbare Zwischenkreatur entstanden war. Ihr Herrscher, ihr Geist, ihr Vollstrecker: der Schattenkönig.
(aus: Walter Moers, Die Stadt Der Träumenden Bücher)



Ein Kinderbuch ist Walter Moers "Die Stadt Der Träumenden Bücher" nicht, denn oftmals fallen Köpfe und fließt Blut, brennt es lichterloh oder wird heimtückisch gemeuchelt. Aber ein Buch für Erwachsene ist es, für solche, die noch irgendwo in sich drin ein albernes Kind beherbergen, welches sich liebend gerne in abenteuerlichen Schauergeschichten verlieren möchte und sich auch kniehohe, birnenförmige Zyklopen vorstellen mag, welche Literatur nach ihrem Kaloriengehalt sortieren, um beim Lesen nicht unnötig fett zu werden.

Ich habe dieses Buch erst wegen seiner liebevollen Zeichnungen geliebt und später dann wegen der liebevollen, köstlich albernen Geschichte, welche mich an vielen Stellen lauthals auflachen liess.

Das war wirklich großartig, meine geliebten Freunde! Es reichte nicht, dass der Schattenkönig mich in Lebensgefahr gebracht hatte, nein, jetzt mußte er auch noch anfangen, Kalenderweisheiten abzusondern.
(aus: Walter Moers, Die Stadt Der Träumenden Bücher)



Wer Geschichten mag und sich gerne einmal entführen lässt, fort vom ewig sinnierenden und lamentierenden Ernst des Lebens, der sollte sich von Hildegunst von Mythenmetz mitnehmen lassen...